Jahresendspurt

Wie, schon der 21. Dezember?! Da werde ich doch noch ein weiteres Mal in den Schnelldurchlauf-Modus umschalten müssen. Bevor der Jahreswechsel mich kalt erwischt.

Ende Oktober war ich bei Kruder & Dorfmeister im Großen Saal der Elbphilharmonie. In den 90ern, als die beiden Wiener ihre große Zeit hatten, hat mich zwar ganz andere Musik interessiert. Es war aber nicht mein erstes K&D-Livekonzert. Ich wusste also in etwa, was mich auf und vor der Bühne erwarten würde. „‚The K&D Sessions‘ live“ war trotzdem anders: Das gesamte Album aus dem Jahr 1998 wurde nämlich tatsächlich live gespielt, mit einer richtigen Band. Das war auch richtig klasse, einigen im Publikum jedoch nicht laut genug. Zum Zuhören waren die nicht gekommen. Überrascht hat mich das nicht.

Die Ohren spitzen musste man unbedingt bei Jay Schwartzs „Passacaglia – Music for Orchestra IX“, dem ersten Stück des Konzerts von Teodor Currentzis und Utopia am gleichen Ort ein paar Tage später. Dem Programmheft entnahm ich, dass das Werk auf dem Lied „Du bist die Ruh“ von Franz Schubert basiert. Ein in dem Text verarbeitetes Zitat bezeichnet Schwartz zudem als „Schubert unserer Zeit“. Gehört habe ich davon nichts. Es ist meine zweite Begegnung mit Schwartzs Werken und ich gestehe, ich fange nicht viel damit an. Da ist Mahlers fünfte Sinfonie, der zweite Programmpunkt des Abends, doch wesentlich zugänglicher. Deren vierter Satz, das Adagietto, ist einem breiteren Publikum durch die Visconti-Verfilmung der Thomas Mann-Novelle „Der Tod in Venedig“ bekannt geworden. Mein Lieblings-Satz ist es nicht – ich finde, der klingt irgendwie, ich weiß nicht, verwaschen? Abgesehen davon fehlte mir beim Zuhören die Ruhe, denn zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich mich hinsichtlich gewisser Bedürfnisse gewaltig im Timing verschätzt. Ich schaffte es gerade noch zum Ende des fulminanten fünften Satzes, um dann beim ersten Applaus zum Ausgang zu sprinten. Pro-Tipp: Sitzt man in 13 I, ist das nächste stille Örtchen nicht in der 13. Etage, sondern die hintere Treppe hoch in der 15. Etage. Mit Dank an die freundliche Platzanweiserin, die meine Not mit einem Blick erkannte und mir den kürzeren Weg wies. Zur Bach-Zugabe „Jesus bleibet meine Freude“, gespielt und gesungen (!) vom Orchester (sehr schön!), war ich dann auch schon wieder im Saal.

Anfang November zog es mich zur Aufzeichnung einer „eat.READ.sleep“-Sonderfolge mit Daniel Kaiser und Katharina Mahrenholz im Rahmen des 17. Hamburger Krimifestivals auf Kampnagel. Das war mein drittes „eat.READ.sleep“-Live-Event und obwohl es beim Krimi-Spezial zu der ein oder anderen Holprigkeit kam (so zum Beispiel zu sich wiederholenden Fragen bei den Rätseln): Diese Veranstaltungen sind absolut empfehlenswert! Macht einfach Laune. Besonders habe ich den Fitzek-Verriss genossen. „Das Kalendermädchen“ erzielte hohe Werte auf der Rossmann-Skala. Ich hab da vielleicht nicht richtig aufgepasst, ist die eigentlich nach oben offen? Sollte sie wahrscheinlich besser sein. „Glückskekse und Abgründe“ kann man hier nachhören.

Tags darauf folgte eine Neuentdeckung (Mit freundlicher Unterstützung! Nochmals vielen Dank dafür!): die Klangmanufaktur in Borgfelde und deren Werkstattkonzertreihe „Kohärenzen“. Die Klangmanufaktur ist in erster Linie ist eine Werkstatt, in der Konzert­flügel von Steinway & Sons generalüberholt werden.

Sie bietet aber auch Flügel zur Miete, Proberäume und Seminare für Konzerttechnik an. Und eben Werkstattkonzerte. Da sitzt man sehr exklusiv buchstäblich mitten in der Klavierwerkstatt. Ein magischer Ort! Es wird aber keinesfalls nur Klaviermusik gegeben: An fraglichen Abend sahen und hörten wir eine Violin-Klasse von Professor Christoph Schickedanz und Niklas Liepe mit Flügelbegleitung (ein D-Flügel Baujahr 1971, Schwarz + Mahagoni seidenmatt geölt – sogar noch zu haben! Für 145.000 Euro!). Aufgeführt wurden Werke von Claude Debussy, George Antoine, Joseph Jongen und Karol Szymanowski. Das war phantastisch, da bin ich bestimmt jetzt öfters. Wer Karten für die „Kohärenzen“ haben möchte, muss sich allerdings jeweils sehr zeitig darum bemühen. Auch die Warteliste ist schnell ausgebucht. Der Eintritt ist kostenlos. Um Spenden wird gebeten und zwar ganz klassisch mittels eines Hutes, der nach dem Konzert herumgereicht wird.

Ende November war es dann endlich Zeit für die Rocket Men mit „Lost in Space“ im Planetarium Hamburg. A match made in heaven! Ich habe die Laser ein bisschen vermisst, aber wahrscheinlich war die Entscheidung richtig, sich zugunsten der Musik und der Künstler auf Visuals zu beschränken. Sehr gerne wieder so.

Anfang Dezember war ich spontan beim Kaiser Quartett im NACHASYL. Das ging schon gar nicht anders, denn auch das Konzert war recht spontan anberaumt worden. Das Kaiser Quartett wollte nämlich sein neues Mitglied präsentieren: Statt Adam Zolynski ist künftig Amanda Bailey an der Violine dabei. Da müsste übrigens nicht nur die offizielle Webseite des Quartetts dringend aktualisiert werden, auch der alte Spruch „4 Kings 1 Kaiser“ passt ja nun nicht mehr! Jedenfalls, Amanda Bailey spielte nicht nur, als gehörte sie schon immer dazu, sie sang auch, zum Beispiel den Song „Empire“. Eine sehr schöne Weiterentwicklung, ich bin Fan! Das neu formierte Ensemble hatte aber noch ein weiteres Ass im Ärmel: Mitten im Konzert trat Anna Depenbusch mit „Eisvogelfrau“ und „Alles auf Null“ auf die Bühne.

Dieser Coup hatte einen besonderen Hintergrund: Nächstes Jahr gehen alle fünf nämlich zusammen auf Tournee. Für das Konzert am 17. Juni 2025 in der Elbphilharmonie hatte ich bereits gleich bei Ankündigung eine Karte erstanden, denn das wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr, sehr großartig.

Das „Blind Date“ Mitte Dezember habe ich leider verpasst. So schnell wäre der ICE auch ohne medizinischen Notfall in Düsseldorf nicht gewesen, um mich von der Masterverleihung im Rheinland rechtzeitig nach Hamburg zurückzubefördern. Bedauerlicherweise bin ich die Karte im Vorfeld nicht mehr losgeworden. Das ist mir völlig unverständlich – „Blind Dates“ sind fast immer ausverkauft und fast immer super, da geht man doch hin, wenn man die Gelegenheit hat! Aber das „Orchesterkaraoke“ mit den Jungen Symphonikern Hamburg auf Kampnagel habe ich noch erwischt. Irgendwie ist mir da die Ankündigung durchgegangen (Wie? Warum?!), es wurde schon schwierig, noch einen guten Platz zu ergattern. Ich kann nur von der zweiten Show um 20:30 Uhr berichten, aber behaupte einfach mal: Das war ein sehr guter Jahrgang! Ich war besonders von dem Herrn angetan, der „Hallelujah“ von Leonard Cohen vortrug. Wow. Einen Abzug in der B-Note gebe ich dem Repertoire. Da darf gerne mal das ein oder andere ausgetauscht werden, vor allem in Teilen sehr schwer (mit-)singbare Stücke wie „Bad Guy“ von Billie Eilish und „Texas hold ‚em“ von Beyoncé.

Arbeitsplatz von Jan Wulf, der "lebenden Karaokemaschine"
Arbeitsplatz von Jan Wulf, der „lebenden Karaokemaschine“

Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Grundsätzlich ist Orchesterkaraoke ein ganz großer Spaß und verlässlich dazu geeignet, die Stimmung zu heben.

Ich schließe den Schnelldurchlauf mit einem weihnachtlichen Konzertabend im Kleinen Saal der Elbphilharmonie ab: Unter der Überschrift „Nordic Christmas“ präsentierten Helene Blum (Gesang, Violine) und Harald Haugaard (Violine) mit Lena Jonsson (Violine), Kristine Elise Pedersen (Cello), Mattias Pérez (Gitarre) und Sune Rahbek (Schlagzeug) alte und moderne weihnachtliche Folkmusik aus dem Norden. Der Herkunft der überwiegenden Anzahl der oben genannten Künstlerinnen und Künstler geschuldet mit ausgewiesen dänischem Schwerpunkt. Musikalisch war das zwar top, aber von der Präsentation her mehr als nur ein bisschen drüber. Dazu passte auch das Programmblättchen: „Die Welt braucht Hoffnung. Hoffnung treibt alles an. Musik ist Hoffnung. Weihnachten ist Hoffnung. Gemeinschaft ist Hoffnung. Sich um das Licht und die Musik im Konzertsaal zu versammeln, während sich die Dunkelheit der Winternacht über das Land legt, zeigt uns, dass wir nicht allein sind und dass wir Hoffnung wollen.“. Naja. War schön, wird aber wohl keine regelmäßige Einrichtung. Was es theoretisch werden könnte, denn „Nordic Christmas“ ist eine Reihe, die im kommenden Jahr bereits in die 19. Auflage geht. Mit dem 18. Dezember 2025 steht der nächste Termin in der Elphi schon fest.

So! Jetzt kommen voraussichtlich noch zwei Nachträge und dann ist mein Konzert- und Kulturjahr 2024 Geschichte. Ob ich künftig wieder schaffen werde, regelmäßig und zeitnah darüber zu berichten?

Quartalsmeldung 2/2024 (oder so ähnlich)

Weiter geht es voraussichtlich erst im Mai, denn der April ist fast vollständig durch Termine anderer Art besetzt. Der Bericht folgt Ende Juni. Wenn mich dann nicht die Masterarbeit verschluckt hat.

Was soll ich sagen – liebe Leserin, lieber Leser (und alle dazwischen): Die Masterarbeit hatte mich verschluckt. Jetzt, genau vier Wochen vor dem Abgabetermin, sehe ich allmählich wieder Land und kann die begonnene Reihe fortsetzen. Der Plan: die Spanne Mai bis August fasse ich knapp zusammen, flankierend gibt es ein paar gesammelte „Statt Postkarten“, das Internationale Sommerfestival bekommt wie jedes Jahr einen eigene Berichterstattung und ab September wird wieder normal gebloggt! So!

Mai

Anfang Mai hatte ich die Gelegenheit und das Vergnügen, an einem hamburgafterwork-Instawalk durch die Ausstellung „Zwischen Sturm und Stille“ im Internationalen Maritimen Museum teilnehmen zu dürfen.

Volker Tieman: Große Woge
Volker Tieman: Große Woge
Michael Ancher: (Drei von) Vier Fischer(n) am Strand vor Skagen
Michael Ancher: (Drei von) Vier Fischer(n) am Strand vor Skagen
Trine Sondergaard: Strude #1
Trine Sondergaard: Strude #1

Die Ausstellung des Museums Kunst der Westküste (MKdW) ist kürzlich bis zum 12. Januar 2025 verlängert worden. Der Besuch lohnt sich sehr. Zu diesem Urteil wäre ich mutmaßlich auch ohne die Veranstaltung gekommen, den Wein vom Föhrer Weingut Waalem hätte ich dagegen wohl nicht so schnell entdeckt. Im Oktober werde ich dem MKdW höchstselbst einen Besuch abstatten. Dem Weingut leider nicht, dort ist dann nämlich Erntezeit und deshalb für Besucherinnen und Besucher verständlicherweise kein Raum.

Ansonsten war ich bei zwei Konzerten des Internationalen Musikfests Hamburg – das Kronos Quartet und Teodor Currentzis und Utopia mit Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll – und bei einem „Blind Date“, alles in der Elbphilharmonie. Das Konzert des Kronos Quartet war mit „KRONOS – Five Decades Celebration“ überschrieben, hatte dann aber doch etwas weniger „Best of“-Charakter als erhofft. Meine Lieblingsstücke: „Lunch in Chinatown“ von Terry Riley und „Different Trains für Streichquartett und Tonband“ von Steve Reich.

Von Teodor Currentzis und Utopia habe ich an dieser Stelle schon ausführlich geschwärmt, das muss ich im Rahmen dieses Schnelldurchlaufs nicht in epischer Breite wiederholen. Jedenfalls wurde ich nicht enttäuscht. Im letzten „Blind Date“ der Saison 2023/24 schließlich präsentierten Nils Mönkemeyer (Bratsche), Sebastián Sciaraffia (Barockgitarre), Gonzalo Manrique (Barockgitarre), Martín Bruhn (Percussion) und Rubén Dubrovsky (Colascione, Charango) unter der Überschrift „Viola Latina! Living Baroque“ eine Reise durch verschiedene Regionen und Musikstile Südamerikas. Das traf nicht ganz mein Geschmack, was aber bei der „Blind Date“-Reihe nur eine untergeordnete Rolle spielt, denn, ich erwähnte es vermutlich schon mehrfach: Man kann sich auf die Qualität der dort auftretenden Künstlerinnen, Künstler und Ensembles im wahrsten Sinne des Wortes blind verlassen.

Juni

Der Juni begann mit dem ELBJAZZ. Man sollte es vielleicht nicht mehr so nennen: Vielleicht sind es noch 50% Jazz gewesen, möglicherweise ist aber auch das schon eine zu optimistische Einschätzung. Die Bezeichnung Etikettenschwindel drängt sich auf, nicht erst seit diesem Jahr.

ELBJAZZ (Symbolbild)
ELBJAZZ (Symbolbild)

Meine musikalischen Highlights: Asaf Avidan (kein Jazz), Belle & Sebastian (auch kein Jazz), Rocket Men (ebensowenig Jazz wie GoGoPenguin) und – zu sehr später Stunde in der Elbphilharmonie – Martin Kohlstedt (ebenfalls kein Jazz).

Die Rocket Men habe ich aufgrund ungünstiger Umstände leider nur außerhalb der Schiffbauhalle erleben dürfen und mir deshalb im Anschluss schleunigst eine Karte für eine der beiden inzwischen ausverkauften „Lost in Space“-Shows Ende November im Planetarium Hamburg gesichert. Das wird bestimmt großartig.

Kameramann
Kameramann

Meine nichtmusikalischen Highlights: der Kameramann an der Hauptbühne, das Holzofenbrot – zugegebenermaßen hauptsächlich wegen des Holzofens – und das Crumble. Eine Glühweinbude wäre angesichts der vorherrschenden Temperaturen, verstärkt durch den zeitweisen Niederschlag, auch nicht verkehrt gewesen. Ebenfalls nicht ganz so günstig waren die auffällig hartnäckigen Technikprobleme, vor allem während des Auftritts von Asaf Avidan. Ich erwarte Besseres von einem Festival dieses Kalibers, von dem Konzertausschnitte (leicht zeitversetzt) auch auf arte CONCERT präsentiert wurden.

Moment, da war doch vorher noch was! Ein Stummfilmkonzert in der Laeiszhalle nämlich: „Das Cabinet des Dr. Caligari“, untermalt von Klängen durch Karl Bartos (Kraftwerk). Das fand im Rahmen des Schleswig Holstein Musik Festival statt und war bemerkenswert gut.

Das „War Requiem“ von Benjamin Britten, als Programmpunkt des Internationalen Musikfests Hamburg gegen Ende des Monats aufgeführt vom SWR Symphonieorchester, dem London Symphony Chorus, dem SWR Vokalensemble Stuttgart, dem Knabenchor Hannover sowie Irina Lungu (Sopran), Allan Clayton (Tenor) und Matthias Goerne (Bariton), allesamt unter der Leitung von Teodor Currentzis, überforderte mich bedauerlicherweise aufgrund eines hauptsächlich masterarbeitsbedingten Formtiefs. Meine Konzentration reichte nicht, meine emotionale Verfassung befand sich in leichter bis mittelschwerer Schieflage und das Werk eignet sich nun einmal auch nicht sonderlich als Stimmungsaufheller.

Juli

Anfang Juli war ich bei Charly Hübner und Caren Miosga zu einer andeutungsweise szenischen Lesung mit Musik aus den „Jahrestagen“ von Uwe Johnson. Wobei weder die Vortragenden (Ninon Gloger am Klavier ausgenommen) noch das Publikum (wahrscheinlich zündet das Sujet im Osten der Republik noch anders) in Top-Form waren. Aber die Großartigkeit des Formats blitzte durch.

"Jahrestage" mit Charly Hübner, Caren Miosga und Ninon Gloger
„Jahrestage“ mit Charly Hübner, Caren Miosga und Ninon Gloger (v. l. n. r.)

In der Schule quälte man uns mit „Mutmaßungen über Jakob“, was dazu führte, dass ich um Johnsons Werk fortan einen großen Bogen machte. Merkwürdigerweise habe ich den ersten Satz des Romans („Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“) nie vergessen können, den Rest aber vollkommen verdrängt… So oder so, vielleicht war der Abend im St. Pauli Theater ja der erste Schritt einer Wiederannäherung. Apropos St. Pauli Theater: Ich hatte vergessen, wie furchtbar unbequem man da sitzt!

Tags drauf sah und hörte ich das Chineke! Orchestra mit „African Suite“ von Fela Sowande, „To the Hibiscus“ von Cassie Kinoshi und Max Richters „Recomposed: Vivaldi – The Four Seasons“ (mit Elena Urioste an der Solovioline) in der Elbphilharmonie, eine weitere Veranstaltung des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Das hat mir richtig gut gefallen, ganz besonders der Richter/Vivaldi: Bis dato war das wohl die mit Abstand schönste Interpretation dieses Lieblingswerks, die ich erleben durfte. Ziel der Chineke! Foundation ist übrigens die Förderung der ethnischen Vielfalt in Orchestern und generell der klassischen Musikszene, hier erklärt von der Gründerin, Chi-Chi Nwanoku:

August

Der August war auch in diesem Jahr geprägt vom Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel (Bericht folgt – siehe oben). Zwischendrin war ich aber noch ein letztes Mal beim Schleswig-Holstein Musik Festival, genauer: beim Duo Ruut im Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Das war ebenso zauberhaft wie unterhaltsam, des sehr speziellen Humors der beiden Musikerinnen wegen.

Und jetzt? Ist schon fast September. Krass.

Jahresendspurt

Ich habe Max Cooper vergessen! Schlimm! Das war schon am 11. November, im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, und mehr Bild als Ton. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet.

Nicht mein Lieblingsgenre, aber unbestritten beeindruckend. Mit dem Sound der Elphi noch einmal mehr. Nur in den ersten Reihen hätte ich da nicht sitzen mögen. Klassisches Kinophänomen. Ich weiß schon, warum die Reihe 7 mit der größeren Beinfreiheit und der besseren Übersicht meine Lieblingsposition im Kleinen Saal ist. Allerdings auch nicht immer, es hat Gelegenheiten gegeben, wo ich mir einen kleineren Abstand zur Bühne gewünscht hätte. Beziehungsweise wo ich diesen bewusst gesucht habe. Die nächste solche Gelegenheit bietet sich Ende Januar: ein Kammerkonzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters, aber nicht irgendeines, sondern moderiert von Daniel Kaiser und Jan Ehlert von eat.READ.sleep und unter dem Titel „Der Klang der Bücher“. Bei so etwas interessiert mich auch Mimik und Gestik. Hauptsächlich der Moderatoren.

Was gab es noch im November? Das Jahresabschlusskonzert des Tingvall Trio in der FABRIK zum Beispiel. Ausverkauft, aber nicht überfüllt und größenteils bestuhlt – dem Altersschnitt des Publikums wurde Rechnung getragen (ich beschwere mich nicht). Von den Stücken aus dem neuen Album „Birds“ gefielen mir „Woodpecker“, „Humming Bird“ und „Nighttime“ am besten.

Nur anhören kann ich mir das Album nicht. Mich stört nämlich die neuerdings im Hintergrund hörbare Stimme extrem. Das macht aber nichts, live ist sowieso nicht zu toppen und ich bin meistens da, wenn Martin Tingvall, Omar Rodriguez Calvo und Jürgen Spiegel in Hamburg spielen.

Was mich zum Dezember bringt. Da musste es noch einmal das SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Teodor Currentzis sein. Ich kaufe für diese Kombination zwar reflexartig Karten, werde aber dennoch vorsichtig beziehungsweise wenigstens hellhörig, wenn Konzerte unter dem Label „Elbphilharmonie für Kenner“ einsortiert sind. Das bedeutet meistens 20. Jahrhundert und/oder zeitgenössisch = anstrengend. Kann gutgehen, muss aber nicht. Ich mache es kurz: Es ging gut, spektakulär gut sogar. Der Plot: Das Adagio aus Mahlers unvollendeter Zehnter und vier davon inspirierte zeitgenössische Kompositionen von Alexey Retinsky („La commedia“), Philippe Manoury („Rémanences-Palimpseste“), Mark Andre („Echographie 4“) und Jay Schwartz („Theta“). Für die volle Länge von „Theta“ hat die Konzentration vieler Zuhörer nicht mehr ganz gereicht – rund 1 Stunde und 45 Minuten ohne Pause, das ist auch für versierteres Klassikpublikum hart an der Grenze. Ein bisschen peinlich, da der Komponist höchstpersönlich im Publikum saß. Andererseits hätte das Gesamtkunstwerk ohne die übergangslose Darbietung viel von seiner Wirkung eingebüsst. Etwas unglücklich lief es für die „Nach(t)musik“, da wäre eine klarere Ansage von Teodor Currentzis hilfreich gewesen. Es mag ihm nicht bewusst sein, dass die Tradition des SWR SO sich in Hamburg noch nicht überall herumgesprochen hat. Alban Bergs „Lyrische Suite für Streichquartett“ von 1919 sahen und hörten daher nur noch vergleichsweise wenige Menschen, von denen bedauerlicherweise nicht alle die Höflichkeit besaßen, bis zum Ende des Stücks auf ihren Plätzen zu bleiben. Das fiel nach der Vorlage aber auch mir nicht mehr leicht. Unabhängig davon werde ich diese besonderen Konzertereignisse sehr vermissen und freue mich schon jetzt auf Benjamin Brittens „War Requiem“ im Juni nächsten Jahres.

Drei Abende in der Elbphilharmonie

Ich habe drei Abende in der Elbphilharmonie und einen auf dem Reeperbahn Festival nachzutragen. Ich fange mit der Elbphilharmonie an.

Da hatte die Neugier gesiegt und mich zum Kauf eines Tickets für die „Harbour Front Sounds“-Veranstaltung zu Manfred Krug und seinen Tagebüchern im Kleinen Saal bewogen. Dort saßen Manfred Krugs zweitjüngste Tochter Fanny als lesend und singend Vortragende und Krista Maria Schädlich als langjährige Freundin Krugs und Herausgeberin der Tagebücher zusammen mit Olli Schulz, dem die Moderatorenaufgabe zugedacht war. Dankenswerterweise gelang es den Damen problemlos, sich gegenüber Herrn Schulz zu behaupten. Der schien leider immer wieder zu vergessen, dass er nicht die Hauptperson des Abends und als Alleinunterhalter geladen war. Ließ sich gar noch zu einem mehr als peinlichen „Zaubertrick“ hinreißen. Ich bin nicht sicher, ob ich das eher anstrengend oder eher unterhaltsam fand. Irgend etwas dazwischen vielleicht. Bedauerlicherweise war Frau Krug stimmlich etwas angeschlagen, nichtsdestotrotz mochte ich die Songs und ihre Art, diese und die Tagebuchauszüge vorzutragen, sehr. Das letzte Musikstück, eine deutschsprachige Fassung von „Baby, it’s cold outside“ im Duett mit ihrem Vater – die Technik macht’s möglich – hat mich richtiggehend angerührt. Und auch die wunderbare Klavierbegleitung durch Bene Aperdannier soll nicht unerwähnt bleiben.

Tatsächlich war die Veröffentlichung der Krug’schen Tagebücher komplett an mir vorbeigegangen. Durch die vorgetragenen Ausschnitte angefixt, lieh ich mir die beiden bisher erschienenen Bände aus der örtlichen Bücherhalle. Der erste Teil enttäuschte mich schnell: Manfred Krug präsentiert sich darin selbstverliebt, grumpy und vor allem sehr überzeugt davon, wie schlecht andere in ihren Jobs sind (vor allem: Regisseure und -innen, Drehbuchautor:innen, andere Schauspieler:innen, aber auch Werbetreibende und Handwerker:innen). Schauspielerinnen werden auf ihre „Tittchen“ reduziert und die Art und Weise, wie selbstverständlich dieser (alte, weiße) Mann davon ausgeht, dass Ehefrau und Geliebte ihm – am besten noch in trauter Eintracht – die Koexistenz beider Lebens- und Liebesformen gestatten, triggert mich aus sehr persönlichen Gründen außerordentlich. In den Einträgen nach dem Schlaganfall Krugs im Juni 1997 ändert sich der Ton allerdings merklich und die zeitgeschichtliche Komponente bleibt faszinierend. Als Jahrgang 1973 stöbere ich da nicht zuletzt in meiner eigenen Vergangenheit. Ich werde also wohl noch den zweiten Band lesen und zudem irgendwann auch die Lektüre von „Abgehauen“ nachholen. Zuerst freue mich aber auf Alan Rickmans „Madly, Deeply“. Ich bin mir sicher: An dessen Tagebuchaufzeichnungen werde ich weitaus größeres Vergnügen haben.

Die übrigen Veranstaltungen des diesjährigen Harbour Front Literaturfestivals, die mich interessiert hätten, fanden übrigens dummerweise allesamt in der Woche statt, in der ich studiumsbedingt in Berlin weilte, darunter die Aufzeichnung einer weiteren Folge des NDR-Literaturpodcasts eat.READ.sleep und eine Lesung mit „Mr. ESC“ Peter Urban. Das Festival läuft noch bis zum 28. Oktober 2023.

Das zweite nicht ganz ungetrübte Event war das Konzert von Elvis Costello und Steve Nieve. „Hunderte Fans verließen vorzeitig den Großen Saal“, schrieb am darauffolgenden Tag das Hamburger Abendblatt. Das ist zwar ein klein wenig übertrieben, aber der Besucherschwund war in der Tat nicht unbeträchtlich. Keine Ahnung, ob Mr. Costello sich nicht gut genug gehört hat oder vielleicht generell nicht mehr so gut hört, aber in manche seiner Songs ist der Mann weder vom Tempo noch vom Ton her hineingekommen. Im Sinne von hart an bis jenseits der Schmerzgrenze. Man fragt sich auch, wie ein Mensch mit derart langjähriger Bühnenerfahrung dermaßen ungeschickt im Umgang mit den diversen Mikrofonen auf der Bühne sein kann. Jedenfalls, den teils unterirdischen Sound hatte keinesfalls allein die Technik zu verantworten. Es gab aber auch die Stücke, bei denen alles passte. Für diese Perlen und die Einlagen jenseits der elektronischen Verstärkung hatte sich der Kartenkauf gelohnt. Und nicht zuletzt für Steve Nieve am Flügel.

Auch der dritte Abend wurde von manchen als problematisch bezeichnet: beispielsweise von Joachim Mischke, dem langjährigen Kulturredakteur und Musikkritiker beim bereits erwähnten Abendblatt, in einem Posting auf Facebook unmittelbar vor Konzertbeginn. „Currentzis dirigiert – ausgerechnet – Schostakowitsch 13, ‚Babi Jar’… Ein Stück, das auch den Antisemitismus in der Sowjetunion kritisiert. An das Massaker in der Ukraine erinnert dort ein Denkmal, und das wurde im März 2022 durch russischen Raketenbeschuss beschädigt. Und Currentzis schweigt nach wie vor zu so vielen Fragen, die seine Haltung zu Putin und dessen Angriffskrieg betreffen“, schreibt Mischke dort. Einerseits nachvollziehbar. Andererseits, wenn ich mir manche der Programmentscheidungen (und -änderungen!) der jüngsten Vergangenheit anschaue, die Teodor Currentzis zweifelsohne federführend gestaltet hat, fällt es mir nicht allzu schwer, darin eine kriegsablehnende Haltung zu erkennen. Und vielleicht muss man dem Mann zugestehen, in einem Dilemma zu stecken, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Aber ich gebe zu, als bekennender Fan ist es mir nicht möglich, objektiv zu sein.

Wie dem auch sei, musikalisch enttäuschte der Auftritt nicht. Neben Currentzis und dem SWR Symphonieorchester standen der Estnische Nationale Männerchor, Bratschist Antoine Tamestit und Bassist Alexander Vinogradov auf der Bühne. Marko Nikodijevićs Violakonzert berührte und die Interpretation der Schostakowitsch-Sinfonie überwältigte mich erwartungsgemäß. Die anschließende „Nach(t)musik“, bestehend aus der Overtüre über hebräische Themen c-Moll op. 34 von Sergei Prokofjew, Béla Kovács‘ „Sholem-Alekhem, rov Feidman!“ und einem Klezmer-Tanz des rumänischen Komponisten Șerban Nichifor, lebte von der unbändigen Spielfreude der Beteiligten, darunter auch Solist Tamestit. Wie bedauerlich, dass es Currentzis‘ letzte Saison als Chefdirigent des SWR SO ist. Ein Gastspiel in dieser Kombination gibt es noch in der Elphi, am 12. Dezember 2023. Noch gibt es Karten.

(Jahres-/Konzert-)Rückblick 2022

Ich hatte mehrfach angesetzt, es aber es bis Jahresende nicht hingebracht, über die beiden Dezemberkonzerte zu berichten. Aufgrund des fortgeschrittenen Datums bietet sich eine Verbindung mit dem Jahresrückblick 2022 an.

Das vorletzte Konzert war ein „Blind Date“ mit Klaus PaierAsja Valčić und Gerald Preinfalk, die ihr gemeinsames CD-Projekt „Fractal Beauty“ vorstellten.

Das kam durchweg gut an im vollständig ausverkauften Kleinen Saal der Elbphilharmonie und vielleicht hat sich Gerald Preinfalk inzwischen auch wieder beruhigt ob des Konzepts meiner Lieblings-Konzertreihe. „Und Sie wussten wirklich nicht, was Sie heute Abend erwartet?!“

Ausverkauft war auch das letzte Highlight des Jahres: Yulianna Avdeeva, Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester boten Sergej Prokofjews Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 16, Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ und Maurice Ravels „Bólero“ dar. Im direkten „Bólero“-Vergleich haben Utopia und die Laeiszhalle klanglich einen knappen Sieg davongetragen. Unter optischen Aspekten gewinnt dagegen mit großem Abstand der Große Saal der Elbphilharmonie. Denn Teodor Currentzis dirigierte weite Teile des Stücks durch bloße Veränderungen in seiner Körperhaltung und auf dem Seitenplatz in 13 I kam ich in den vollen Genuss dieses durch und durch faszinierenden Schauspiels – anders kann man es nicht bezeichnen. Das Auge hört mit!

Yulianna Avdeevas Zugabe, die Nocturne cis-Moll op. posth. BI 49 von Frédéric Chopin, brachte mich zuvor für einen kurzen, aber dafür umso intensiveren Moment zurück in die kleine Laeiszhalle und zu meinem Konzert des Jahres 2015. Die als finale Zugabe konzipierte „Nach(t)musik“ bestand aus dem Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67 von Dmitri Schostakowitsch, interpretiert von Yulianna Avdeeva, Mila Georgieva (Violine) und Frank-Michael Guthmann (Violoncello). Diese Programmwahl fand nicht bei allen im Saal uneingeschränkte Zustimmung – so beispielsweise bei dem Teil des zahlreich angetretenen Abopublikums nicht, der links neben mir bis unmittelbar vor Konzertbeginn telefonierte und mit Bäckereitüten knisterte. Mein besonderer Respekt gebührt der Dame, die es fertigbrachte, während „Le sacre du printemps“ einzuschlafen. Dass der Intendant gegen Ende der ersten Pause höchstpersönlich darum bat, das feedbackzwitschernde Hörgerät – irgendwo auf den richtig teuren Plätzen – möge doch bitte unter Kontrolle gebracht werden, fügte sich in dieses tendenziell unschöne Bild. Sehr dankbar bin ich dagegen den Herrschaften rechter Hand, die mich auf das Konzert des London Symphony Orchestra mit Barbara Hannigan und Veronika Eberle im März 2023 aufmerksam machten. Das war mir unerklärlicherweise durchs Raster gehüpft.

Was die musikalischen Erlebnisse insgesamt betrifft, ist vergleichsweise wenig passiert im frisch vergangenen Jahr. Weil an anderen Stellen so viel passierte. Zu neuen Konzertorten kam ich daher ebenso wenig wie zu Festivalbesuchen (vom Internationalen Sommerfestival abgesehen). Für eine kleine Liste reicht es dennoch.

Die bemerkenswerten Premieren:

Die Wiederholten:

Einen Jahres-Favoriten kann und möchte ich nicht nominieren, sondern lediglich feststellen: Weniger ist tatsächlich mehr. Auch eine Erkenntnis.

In Concert: Teodor Currentzis und Utopia in der Laeiszhalle

Die große Laeiszhalle erinnert mich immer wieder aufs Neue an das Innere eines klassischen Ozeandampfers. Titanic-Style. Insbesondere das Dach, dem man im 2. Rang gefühlt schon ziemlich nahe kommt. Kein Wunder also, dass akute Schifffahrtsassoziationen aufkamen, als Teodor Currentzis und sein neuestes Klangkörperprojekt Utopia erst mit Strawinksys Feuervogel und dann mit Ravel in Wallung kamen. Und mit ihnen der Saal.

Allein für die Zugabe hat sich das Konzert vorhin schon gelohnt. So ein „Boléro“, wie das Publikum ihn heute gehört hat, ist fast so gut wie – genau. Hat jedenfalls mich vollständig abgeräumt. Ich freue mich auf die rund sieben bis zehn Tage Ohrwurm, die nun vor mir liegen. Zu ahnen war es übrigens schon in der Pause: In dieser fabrizierte ein leise vor sich hinprobender Holzbläser nämlich schon einige mir verdächtig bekannt vorkommende Bruchstücke. Als ich dann noch die kleine Trommel ganz allein mit sich in Warteposition an der Tür stehen sah, hatte ich Mühe, meine Vorfreude im Zaum zu halten.

Beim nächsten Currentzis-Event in Hamburg steht der „Boléro“ übrigens offiziell auf dem Programm. Mal sehen, wie dann das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie damit umgeht.

Ostern in der Elbphilharmonie

Ursprünglich hatten ganz andere Stücke auf dem Programm der beiden Konzerttermine von Teodor Currentzis und musicAeterna in der Elbphilharmonie gestanden. Dann aber kam der Ukraine-Krieg und der musicAeterna-Chor konnte nicht aus Russland einreisen.

Was zur Folge hatte, dass am Karfreitag statt Schnittkes „Konzert für Chor“ eine Zusammenstellung aus langsamen Sätzen und Werken verschiedener Komponisten unter der Überschrift „Slow Music“ dargeboten wurde. Die Mehrzahl der Stücke stammte aus Klavierkonzerten, weswegen Alexandre Kantorow als Solist in der Mitte des Orchesters Platz nahm. Mit Blick auf die Liste steckte ich mir sicherheitshalber ein Taschentuch in den Ärmel. Ein weiser Entschluss, es wurde schon beim Mozart sehr knapp und beim Barber noch etwas knapper. Endgültig abgeräumt hat mich schließlich der Schostakowitsch. Ich hatte das Andante aus dem Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 102 komplett verdrängt. Völlig unverständlich eigentlich. „So ein Programm kann man nur einmal spielen“, meinte einer der Musiker, mit dem ich nach dem Konzert an der Ampel zur U-Bahn-Haltestelle noch flüchtig ins Gespräch kam. „So ein Programm kann man auch nur einmal hören“, pflichtete ich ihm bei.

Die Überschrift über dem Karsamstag lautete „Trauerklage“. Folgerichtig die Stückauswahl: „Metamorphosen“ von Richard Strauss und Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“ statt Beethovens Neunter mit der „Ode an die Freude“. Das hätte ein weiterer ganz und gar umwerfender Abend werden können, aber leider spielte das Publikum nicht mit. Tags zuvor hatte Intendant Christoph Lieben-Seutter höchstselbst noch ausdrücklich und in zwei Sprachen vor Beginn des Konzerts darum gebeten, dass bitte nicht geklatscht werden möge; nicht am Anfang, nicht zwischendrin und auch nicht zum Schluss. Fast hätte es geklappt. Immerhin verhallten die zaghaften Klatscher der wenigen Unverbesserlichen nach Abgang von Solist, Orchester und Dirigent recht schnell wieder.

Dass Teodor Currentzis auch keinen Applaus zwischen den Sätzen der „Pathétique“ dulden wollte, war seiner Körpersprache nach der Reaktion des Publikums auf den ersten Satz überdeutlich zu entnehmen. Da musste man schon außerordentlich ignorant sein, um das nicht zu kapieren. Allein, der Weinberg kannte keine Gnade und unterbrach folgerichtig zu allem Übel noch die Schweigeminute nach Ende des letzten Satzes. Ich habe mich selten so fremdschämen müssen in der Elbphilharmonie.

Woran es gelegen hat? Möglicherweise daran, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Konzertbesucher die Unterhaltung suchte. Das Besondere zu Ostern, ein Konzert in der Elbphilharmonie eben, vielleicht auch als Krönung eines Hamburg-Aufenthalts über die Feiertage. Dazu passte weder die Karfreitagsmeditation noch die Trauerklage am Karsamstag. Die Programmänderungen wurden zwei Wochen vor den jeweiligen Terminen bekannt gegeben. Man hätte die Tickets sogar zurückgeben können. Einige der dennoch Anwesenden hätten gut daran getan.

 

In Concert: Antoine Tamestit, Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie

Sie lässt ja nicht nach, meine Begeisterung für  Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester. Das sind nicht bloß Konzerte, es sind Ereignisse, Inszenierungen gar, bei denen wenig dem Zufall überlassen zu sein scheint und die doch jedes Mal überraschen. Die in kleinen wie in großen Dingen der allzu starren Ritualisierung des im zweifachen Sinne klassischen Programmablaufs entgegenwirken. Als Liebhaberin von Seitenplätzen – 13 I oder F, wenn ich es mir leisten kann, ansonsten 15 N oder Q, notfalls 16 V – weiß ich es zudem zu schätzen, wenn die Verbeugungen im Großen Saal der Elbphilharmonie auch den seitlichen Rängen gelten. Ich erwähnte es bereits: Think Sportarena, not Schuhkarton. Unverständlicherweise ist das immer noch eine Seltenheit, was bisweilen ein wenig frustrierend sein kann.

Wer es auch kann: Bratschist Antoine Tamestit. Also, sein Fach natürlich, aber eben auch, den Raum zu bespielen. Zugegeben, beim „Konzert für Viola und Orchester“ von Jörg Widmann gehört das zur Regieanweisung. Aber auch die Zugabe ging raus in alle Richtungen.

Apropos Jörg Widmann, wie großartig ist denn bitte dieses Bratschenkonzert! Ich bin jetzt endgültig Fan.

In Concert: Teodor Currentzis und musicAeterna in der Elbphilharmonie

Ja, ich weiß. Kontakte einschränken und so. Aber ich wusste auch, dass dieser Auftritt von musicAeterna unter der Leitung von Teodor Currentzis gestern Abend in der Elbphilharmonie sehr wahrscheinlich dazu beitragen würde, mich über die nächsten aller Voraussicht nach livekultur- und kontaktarmen Wochen zu bringen. Also klar bei Schnelltest, Maske auf und hin.

Das Konzert war ursprünglich als 3G-Veranstaltung konzipiert und nachträglich auf 2G umgestellt worden. Im Ergebnis bedeutete das eine reduzierte Besucherzahl in Kombination mit ordentlichen 2G-Kontrollen und vielen freiwilligen Maskenträgern. Fühlt sich schon noch einigermaßen sicher an. Inzidenzen hin, neue Variante her.

Davon abgesehen behielt ich Recht mit meiner Vermutung: Es war ein mitreißender, ein grandioser Abend. Eine derartige Dynamikbandbreite habe ich in einem unverstärkten Konzert auch noch nicht erlebt. Von sehr zart bis extrem laut – und ich meine wirklich extrem, im Sinne von: die Bühne vollgepackt mit Musikern und Instrumenten und alles raus, was geht! Fast ein wenig zu viel des Guten, es erschlug einen doch ziemlich auf den Plätzen nahe beim Orchester. Dynamisch war auch die Präsentation, nämlich überwiegend stehend. Auch ein eher ungewöhnliches Bild. Da ließ sich problemlos verschmerzen, dass Schostakowitschs vierte Sinfonie in ihrer Gesamtheit nicht unbedingt zu meinen Lieblingsstücken zählt.

Nachhaltig beeindruckt hat mich auch die Uraufführung von „parting of the waters into heavens and seas“ des serbischen Komponisten Marko Nikodijević. Der übrigens anwesend und augenscheinlich sehr angetan war von Ort und Art der Darbietung. So etwas hebt zuverlässig die Laune.

Ansonsten steht dieser Tage zum wiederholten Male die Frage im Raum: wie lange noch? Es ist schon arg deprimierend, alles zusammen.

In Concert: Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie

Nein, ich habe noch nicht herausbekommen, wie er es macht.

Warum nämlich das Symphonieorchester des SWR so anders klingt als die anderen – zumindest, wenn Teodor Currentzis vor ihm steht. Warum ich während des gesamten Konzerts keine Konzentrationsprobleme bekam, obwohl ein langer Arbeitstag hinter mir lag und mir der Magen knurrte, weil aufgrund einer besonderen Schiffsankunft spontan das Abendbrot ausfallen musste.

Ein Fenster hinter die Kulissen gibt es immerhin:  Das „Currentzis-LAB“, dessen Mitschnitte auf SWR Classic veröffentlicht werden. Die erste LAB-Session der Saison 2021/22 war eine offene Orchesterprobe mit Schwerpunkt auf dem 3. Satz aus Sergej Prokofjews fünfter Sinfonie  – die perfekte Konzertvorbereitung also.

Zugegeben, ohne wenigstens eine minimale musikalische Vorbildung und einigermaßen intakte Englischkenntnisse kommt man da nicht mit. Ich will auch nicht behaupten, alles verstanden zu haben. Gelernt habe ich dennoch eine Menge, zum Beispiel den Unterschied zwischen einer „dark Passacalgia“ und einem „Marche funèbre“, und dass ich dringend meine musikalischen Vokabelkenntnisse auffrischen sollte. Nebenbei erfährt man nicht nur einiges über Currentzis‘ Mission – sowohl in Bezug auf das Stück als auch ganz allgemein – man lernt auch das Orchester kennen. Zumindest die Teile, die während der Probe einzeln aufgerufen oder häufiger von den Kameras eingefangen wurden. Tatsächlich ein spielentscheidender Vorsprung, wie ich feststellte, und nachhaltiger als alles, was eine handelsübliche Konzerteinführung leisten könnte.

Trotzdem, die Frage bleibt offen: Wie macht er das?

Gegen Ende des Konzerts erfuhr das Publikum, dass Currentzis just am fraglichen Tage seinen Vertrag beim SWR Symphonieorchester um weitere drei Jahre verlängert hat. Das lässt auf zahlreiche weitere gemeinsame Auftritte in Hamburg hoffen, was mir die Fortsetzung der Recherche erheblich erleichtern wird. So oder so, eines gilt seit jenem Konzertabend Ende 2019 als gesetzt: Wenn Teodor Currentzis in Hamburg gastiert und ich irgendwie an Karten komme, bin ich im Saal. Mit etwas Glück also das nächste Mal am 28. November, dann mit musicAeterna, Marko Nikodijević und Dmitri Schostakowitsch.