Jahresendspurt

Ich habe Max Cooper vergessen! Schlimm! Das war schon am 11. November, im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, und mehr Bild als Ton. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet.

Nicht mein Lieblingsgenre, aber unbestritten beeindruckend. Mit dem Sound der Elphi noch einmal mehr. Nur in den ersten Reihen hätte ich da nicht sitzen mögen. Klassisches Kinophänomen. Ich weiß schon, warum die Reihe 7 mit der größeren Beinfreiheit und der besseren Übersicht meine Lieblingsposition im Kleinen Saal ist. Allerdings auch nicht immer, es hat Gelegenheiten gegeben, wo ich mir einen kleineren Abstand zur Bühne gewünscht hätte. Beziehungsweise wo ich diesen bewusst gesucht habe. Die nächste solche Gelegenheit bietet sich Ende Januar: ein Kammerkonzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters, aber nicht irgendeines, sondern moderiert von Daniel Kaiser und Jan Ehlert von eat.READ.sleep und unter dem Titel „Der Klang der Bücher“. Bei so etwas interessiert mich auch Mimik und Gestik. Hauptsächlich der Moderatoren.

Was gab es noch im November? Das Jahresabschlusskonzert des Tingvall Trio in der FABRIK zum Beispiel. Ausverkauft, aber nicht überfüllt und größenteils bestuhlt – dem Altersschnitt des Publikums wurde Rechnung getragen (ich beschwere mich nicht). Von den Stücken aus dem neuen Album „Birds“ gefielen mir „Woodpecker“, „Humming Bird“ und „Nighttime“ am besten.

Nur anhören kann ich mir das Album nicht. Mich stört nämlich die neuerdings im Hintergrund hörbare Stimme extrem. Das macht aber nichts, live ist sowieso nicht zu toppen und ich bin meistens da, wenn Martin Tingvall, Omar Rodriguez Calvo und Jürgen Spiegel in Hamburg spielen.

Was mich zum Dezember bringt. Da musste es noch einmal das SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Teodor Currentzis sein. Ich kaufe für diese Kombination zwar reflexartig Karten, werde aber dennoch vorsichtig beziehungsweise wenigstens hellhörig, wenn Konzerte unter dem Label „Elbphilharmonie für Kenner“ einsortiert sind. Das bedeutet meistens 20. Jahrhundert und/oder zeitgenössisch = anstrengend. Kann gutgehen, muss aber nicht. Ich mache es kurz: Es ging gut, spektakulär gut sogar. Der Plot: Das Adagio aus Mahlers unvollendeter Zehnter und vier davon inspirierte zeitgenössische Kompositionen von Alexey Retinsky („La commedia“), Philippe Manoury („Rémanences-Palimpseste“), Mark Andre („Echographie 4“) und Jay Schwartz („Theta“). Für die volle Länge von „Theta“ hat die Konzentration vieler Zuhörer nicht mehr ganz gereicht – rund 1 Stunde und 45 Minuten ohne Pause, das ist auch für versierteres Klassikpublikum hart an der Grenze. Ein bisschen peinlich, da der Komponist höchstpersönlich im Publikum saß. Andererseits hätte das Gesamtkunstwerk ohne die übergangslose Darbietung viel von seiner Wirkung eingebüsst. Etwas unglücklich lief es für die „Nach(t)musik“, da wäre eine klarere Ansage von Teodor Currentzis hilfreich gewesen. Es mag ihm nicht bewusst sein, dass die Tradition des SWR SO sich in Hamburg noch nicht überall herumgesprochen hat. Alban Bergs „Lyrische Suite für Streichquartett“ von 1919 sahen und hörten daher nur noch vergleichsweise wenige Menschen, von denen bedauerlicherweise nicht alle die Höflichkeit besaßen, bis zum Ende des Stücks auf ihren Plätzen zu bleiben. Das fiel nach der Vorlage aber auch mir nicht mehr leicht. Unabhängig davon werde ich diese besonderen Konzertereignisse sehr vermissen und freue mich schon jetzt auf Benjamin Brittens „War Requiem“ im Juni nächsten Jahres.

Drei Abende in der Elbphilharmonie

Ich habe drei Abende in der Elbphilharmonie und einen auf dem Reeperbahn Festival nachzutragen. Ich fange mit der Elbphilharmonie an.

Da hatte die Neugier gesiegt und mich zum Kauf eines Tickets für die „Harbour Front Sounds“-Veranstaltung zu Manfred Krug und seinen Tagebüchern im Kleinen Saal bewogen. Dort saßen Manfred Krugs zweitjüngste Tochter Fanny als lesend und singend Vortragende und Krista Maria Schädlich als langjährige Freundin Krugs und Herausgeberin der Tagebücher zusammen mit Olli Schulz, dem die Moderatorenaufgabe zugedacht war. Dankenswerterweise gelang es den Damen problemlos, sich gegenüber Herrn Schulz zu behaupten. Der schien leider immer wieder zu vergessen, dass er nicht die Hauptperson des Abends und als Alleinunterhalter geladen war. Ließ sich gar noch zu einem mehr als peinlichen „Zaubertrick“ hinreißen. Ich bin nicht sicher, ob ich das eher anstrengend oder eher unterhaltsam fand. Irgend etwas dazwischen vielleicht. Bedauerlicherweise war Frau Krug stimmlich etwas angeschlagen, nichtsdestotrotz mochte ich die Songs und ihre Art, diese und die Tagebuchauszüge vorzutragen, sehr. Das letzte Musikstück, eine deutschsprachige Fassung von „Baby, it’s cold outside“ im Duett mit ihrem Vater – die Technik macht’s möglich – hat mich richtiggehend angerührt. Und auch die wunderbare Klavierbegleitung durch Bene Aperdannier soll nicht unerwähnt bleiben.

Tatsächlich war die Veröffentlichung der Krug’schen Tagebücher komplett an mir vorbeigegangen. Durch die vorgetragenen Ausschnitte angefixt, lieh ich mir die beiden bisher erschienenen Bände aus der örtlichen Bücherhalle. Der erste Teil enttäuschte mich schnell: Manfred Krug präsentiert sich darin selbstverliebt, grumpy und vor allem sehr überzeugt davon, wie schlecht andere in ihren Jobs sind (vor allem: Regisseure und -innen, Drehbuchautor:innen, andere Schauspieler:innen, aber auch Werbetreibende und Handwerker:innen). Schauspielerinnen werden auf ihre „Tittchen“ reduziert und die Art und Weise, wie selbstverständlich dieser (alte, weiße) Mann davon ausgeht, dass Ehefrau und Geliebte ihm – am besten noch in trauter Eintracht – die Koexistenz beider Lebens- und Liebesformen gestatten, triggert mich aus sehr persönlichen Gründen außerordentlich. In den Einträgen nach dem Schlaganfall Krugs im Juni 1997 ändert sich der Ton allerdings merklich und die zeitgeschichtliche Komponente bleibt faszinierend. Als Jahrgang 1973 stöbere ich da nicht zuletzt in meiner eigenen Vergangenheit. Ich werde also wohl noch den zweiten Band lesen und zudem irgendwann auch die Lektüre von „Abgehauen“ nachholen. Zuerst freue mich aber auf Alan Rickmans „Madly, Deeply“. Ich bin mir sicher: An dessen Tagebuchaufzeichnungen werde ich weitaus größeres Vergnügen haben.

Die übrigen Veranstaltungen des diesjährigen Harbour Front Literaturfestivals, die mich interessiert hätten, fanden übrigens dummerweise allesamt in der Woche statt, in der ich studiumsbedingt in Berlin weilte, darunter die Aufzeichnung einer weiteren Folge des NDR-Literaturpodcasts eat.READ.sleep und eine Lesung mit „Mr. ESC“ Peter Urban. Das Festival läuft noch bis zum 28. Oktober 2023.

Das zweite nicht ganz ungetrübte Event war das Konzert von Elvis Costello und Steve Nieve. „Hunderte Fans verließen vorzeitig den Großen Saal“, schrieb am darauffolgenden Tag das Hamburger Abendblatt. Das ist zwar ein klein wenig übertrieben, aber der Besucherschwund war in der Tat nicht unbeträchtlich. Keine Ahnung, ob Mr. Costello sich nicht gut genug gehört hat oder vielleicht generell nicht mehr so gut hört, aber in manche seiner Songs ist der Mann weder vom Tempo noch vom Ton her hineingekommen. Im Sinne von hart an bis jenseits der Schmerzgrenze. Man fragt sich auch, wie ein Mensch mit derart langjähriger Bühnenerfahrung dermaßen ungeschickt im Umgang mit den diversen Mikrofonen auf der Bühne sein kann. Jedenfalls, den teils unterirdischen Sound hatte keinesfalls allein die Technik zu verantworten. Es gab aber auch die Stücke, bei denen alles passte. Für diese Perlen und die Einlagen jenseits der elektronischen Verstärkung hatte sich der Kartenkauf gelohnt. Und nicht zuletzt für Steve Nieve am Flügel.

Auch der dritte Abend wurde von manchen als problematisch bezeichnet: beispielsweise von Joachim Mischke, dem langjährigen Kulturredakteur und Musikkritiker beim bereits erwähnten Abendblatt, in einem Posting auf Facebook unmittelbar vor Konzertbeginn. „Currentzis dirigiert – ausgerechnet – Schostakowitsch 13, ‚Babi Jar’… Ein Stück, das auch den Antisemitismus in der Sowjetunion kritisiert. An das Massaker in der Ukraine erinnert dort ein Denkmal, und das wurde im März 2022 durch russischen Raketenbeschuss beschädigt. Und Currentzis schweigt nach wie vor zu so vielen Fragen, die seine Haltung zu Putin und dessen Angriffskrieg betreffen“, schreibt Mischke dort. Einerseits nachvollziehbar. Andererseits, wenn ich mir manche der Programmentscheidungen (und -änderungen!) der jüngsten Vergangenheit anschaue, die Teodor Currentzis zweifelsohne federführend gestaltet hat, fällt es mir nicht allzu schwer, darin eine kriegsablehnende Haltung zu erkennen. Und vielleicht muss man dem Mann zugestehen, in einem Dilemma zu stecken, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Aber ich gebe zu, als bekennender Fan ist es mir nicht möglich, objektiv zu sein.

Wie dem auch sei, musikalisch enttäuschte der Auftritt nicht. Neben Currentzis und dem SWR Symphonieorchester standen der Estnische Nationale Männerchor, Bratschist Antoine Tamestit und Bassist Alexander Vinogradov auf der Bühne. Marko Nikodijevićs Violakonzert berührte und die Interpretation der Schostakowitsch-Sinfonie überwältigte mich erwartungsgemäß. Die anschließende „Nach(t)musik“, bestehend aus der Overtüre über hebräische Themen c-Moll op. 34 von Sergei Prokofjew, Béla Kovács‘ „Sholem-Alekhem, rov Feidman!“ und einem Klezmer-Tanz des rumänischen Komponisten Șerban Nichifor, lebte von der unbändigen Spielfreude der Beteiligten, darunter auch Solist Tamestit. Wie bedauerlich, dass es Currentzis‘ letzte Saison als Chefdirigent des SWR SO ist. Ein Gastspiel in dieser Kombination gibt es noch in der Elphi, am 12. Dezember 2023. Noch gibt es Karten.

(Jahres-/Konzert-)Rückblick 2022

Ich hatte mehrfach angesetzt, es aber es bis Jahresende nicht hingebracht, über die beiden Dezemberkonzerte zu berichten. Aufgrund des fortgeschrittenen Datums bietet sich eine Verbindung mit dem Jahresrückblick 2022 an.

Das vorletzte Konzert war ein „Blind Date“ mit Klaus PaierAsja Valčić und Gerald Preinfalk, die ihr gemeinsames CD-Projekt „Fractal Beauty“ vorstellten.

Das kam durchweg gut an im vollständig ausverkauften Kleinen Saal der Elbphilharmonie und vielleicht hat sich Gerald Preinfalk inzwischen auch wieder beruhigt ob des Konzepts meiner Lieblings-Konzertreihe. „Und Sie wussten wirklich nicht, was Sie heute Abend erwartet?!“

Ausverkauft war auch das letzte Highlight des Jahres: Yulianna Avdeeva, Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester boten Sergej Prokofjews Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 16, Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ und Maurice Ravels „Bólero“ dar. Im direkten „Bólero“-Vergleich haben Utopia und die Laeiszhalle klanglich einen knappen Sieg davongetragen. Unter optischen Aspekten gewinnt dagegen mit großem Abstand der Große Saal der Elbphilharmonie. Denn Teodor Currentzis dirigierte weite Teile des Stücks durch bloße Veränderungen in seiner Körperhaltung und auf dem Seitenplatz in 13 I kam ich in den vollen Genuss dieses durch und durch faszinierenden Schauspiels – anders kann man es nicht bezeichnen. Das Auge hört mit!

Yulianna Avdeevas Zugabe, die Nocturne cis-Moll op. posth. BI 49 von Frédéric Chopin, brachte mich zuvor für einen kurzen, aber dafür umso intensiveren Moment zurück in die kleine Laeiszhalle und zu meinem Konzert des Jahres 2015. Die als finale Zugabe konzipierte „Nach(t)musik“ bestand aus dem Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67 von Dmitri Schostakowitsch, interpretiert von Yulianna Avdeeva, Mila Georgieva (Violine) und Frank-Michael Guthmann (Violoncello). Diese Programmwahl fand nicht bei allen im Saal uneingeschränkte Zustimmung – so beispielsweise bei dem Teil des zahlreich angetretenen Abopublikums nicht, der links neben mir bis unmittelbar vor Konzertbeginn telefonierte und mit Bäckereitüten knisterte. Mein besonderer Respekt gebührt der Dame, die es fertigbrachte, während „Le sacre du printemps“ einzuschlafen. Dass der Intendant gegen Ende der ersten Pause höchstpersönlich darum bat, das feedbackzwitschernde Hörgerät – irgendwo auf den richtig teuren Plätzen – möge doch bitte unter Kontrolle gebracht werden, fügte sich in dieses tendenziell unschöne Bild. Sehr dankbar bin ich dagegen den Herrschaften rechter Hand, die mich auf das Konzert des London Symphony Orchestra mit Barbara Hannigan und Veronika Eberle im März 2023 aufmerksam machten. Das war mir unerklärlicherweise durchs Raster gehüpft.

Was die musikalischen Erlebnisse insgesamt betrifft, ist vergleichsweise wenig passiert im frisch vergangenen Jahr. Weil an anderen Stellen so viel passierte. Zu neuen Konzertorten kam ich daher ebenso wenig wie zu Festivalbesuchen (vom Internationalen Sommerfestival abgesehen). Für eine kleine Liste reicht es dennoch.

Die bemerkenswerten Premieren:

Die Wiederholten:

Einen Jahres-Favoriten kann und möchte ich nicht nominieren, sondern lediglich feststellen: Weniger ist tatsächlich mehr. Auch eine Erkenntnis.

In Concert: Antoine Tamestit, Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie

Sie lässt ja nicht nach, meine Begeisterung für  Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester. Das sind nicht bloß Konzerte, es sind Ereignisse, Inszenierungen gar, bei denen wenig dem Zufall überlassen zu sein scheint und die doch jedes Mal überraschen. Die in kleinen wie in großen Dingen der allzu starren Ritualisierung des im zweifachen Sinne klassischen Programmablaufs entgegenwirken. Als Liebhaberin von Seitenplätzen – 13 I oder F, wenn ich es mir leisten kann, ansonsten 15 N oder Q, notfalls 16 V – weiß ich es zudem zu schätzen, wenn die Verbeugungen im Großen Saal der Elbphilharmonie auch den seitlichen Rängen gelten. Ich erwähnte es bereits: Think Sportarena, not Schuhkarton. Unverständlicherweise ist das immer noch eine Seltenheit, was bisweilen ein wenig frustrierend sein kann.

Wer es auch kann: Bratschist Antoine Tamestit. Also, sein Fach natürlich, aber eben auch, den Raum zu bespielen. Zugegeben, beim „Konzert für Viola und Orchester“ von Jörg Widmann gehört das zur Regieanweisung. Aber auch die Zugabe ging raus in alle Richtungen.

Apropos Jörg Widmann, wie großartig ist denn bitte dieses Bratschenkonzert! Ich bin jetzt endgültig Fan.

In Concert: Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie

Nein, ich habe noch nicht herausbekommen, wie er es macht.

Warum nämlich das Symphonieorchester des SWR so anders klingt als die anderen – zumindest, wenn Teodor Currentzis vor ihm steht. Warum ich während des gesamten Konzerts keine Konzentrationsprobleme bekam, obwohl ein langer Arbeitstag hinter mir lag und mir der Magen knurrte, weil aufgrund einer besonderen Schiffsankunft spontan das Abendbrot ausfallen musste.

Ein Fenster hinter die Kulissen gibt es immerhin:  Das „Currentzis-LAB“, dessen Mitschnitte auf SWR Classic veröffentlicht werden. Die erste LAB-Session der Saison 2021/22 war eine offene Orchesterprobe mit Schwerpunkt auf dem 3. Satz aus Sergej Prokofjews fünfter Sinfonie  – die perfekte Konzertvorbereitung also.

Zugegeben, ohne wenigstens eine minimale musikalische Vorbildung und einigermaßen intakte Englischkenntnisse kommt man da nicht mit. Ich will auch nicht behaupten, alles verstanden zu haben. Gelernt habe ich dennoch eine Menge, zum Beispiel den Unterschied zwischen einer „dark Passacalgia“ und einem „Marche funèbre“, und dass ich dringend meine musikalischen Vokabelkenntnisse auffrischen sollte. Nebenbei erfährt man nicht nur einiges über Currentzis‘ Mission – sowohl in Bezug auf das Stück als auch ganz allgemein – man lernt auch das Orchester kennen. Zumindest die Teile, die während der Probe einzeln aufgerufen oder häufiger von den Kameras eingefangen wurden. Tatsächlich ein spielentscheidender Vorsprung, wie ich feststellte, und nachhaltiger als alles, was eine handelsübliche Konzerteinführung leisten könnte.

Trotzdem, die Frage bleibt offen: Wie macht er das?

Gegen Ende des Konzerts erfuhr das Publikum, dass Currentzis just am fraglichen Tage seinen Vertrag beim SWR Symphonieorchester um weitere drei Jahre verlängert hat. Das lässt auf zahlreiche weitere gemeinsame Auftritte in Hamburg hoffen, was mir die Fortsetzung der Recherche erheblich erleichtern wird. So oder so, eines gilt seit jenem Konzertabend Ende 2019 als gesetzt: Wenn Teodor Currentzis in Hamburg gastiert und ich irgendwie an Karten komme, bin ich im Saal. Mit etwas Glück also das nächste Mal am 28. November, dann mit musicAeterna, Marko Nikodijević und Dmitri Schostakowitsch.

In Concert: Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie

„Ganz unbedingt und ziemlich dringend“ wollte ich etwas über den Auftritt von Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester in der Elbphilharmonie schreiben, so meine Einleitung zur letzten Meldung auf diesem Kanal. Und nun sitze ich hier und weiß nicht so recht, wie anfangen.

Wenn ich über Konzerte und Kulturerlebnisse schreibe, tue ich das nicht aus dem Blickwinkel einer Kulturjournalistin. Schon deshalb, weil ich keine bin. Es geht mir in erster Linie um das Konzerterlebnis und oft beschäftige ich mich mehr mit dem Drumherum als mit der musikalischen Darbietung an sich: Wie bin ich in dieses Konzert gekommen, was verbindet mich eventuell schon mit den Interpreten, den Komponisten oder den Musikstücken, wie empfinde ich den Raum, die Akustik, meinen Sitz- oder Stehplatz, wie geht es mir mit dem Publikum um mich herum und so weiter. Oft ziehe ich ein Fazit, meistens führt mich das eine Konzert zum nächsten und übernächsten. Überhaupt mag ich es, Verbindungen herzustellen, wo auf den ersten Blick vielleicht gar keine zu sehen oder zu hören sind.

Seit ich regelmäßig in Orchesterkonzerte gehe – also seit mittlerweile etwas mehr als sechs Jahren – versuche ich, quasi im Nebenprojekt, mit meinen laienhaften Mitteln die Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester zu ergründen.

Zum Vergleich: Was einen Stargeiger ausmacht, war für mich nicht sonderlich schwer herauszufinden. Wobei bei manchen Zeitgenossen das „Star“ deutlich vor dem „Geiger“ zu stehen scheint. Selbst im Kollektiv eines Streichquartetts gibt es einen, der die erste Geige spielt, und das ist zumeist eine andere Type als der, der an der zweiten sitzt.

Leistung oder Status eines Dirigenten einzuordnen, fällt mir dagegen ungleich schwerer. Da steht ein Mensch vorm Orchester und ich kann nur erahnen, wie es um das Verhältnis dieser beiden bestellt ist. Wie sind die Proben gelaufen? Mögen die Musiker den? Nehmen sie ihn ernst? Welche Rolle spielt die Tagesform? Ist das ein „Star“, der sich wahlweise wie eine Diva oder ein Despot gebärdet, wenn das Publikum es nicht sehen kann? Oder ist es jemand, dem es in zuerst um die Musik und erst danach um Person und Renommee geht?

Es gibt da den einen oder anderen Anhaltspunkt, aber es bleibt eine Mutmaßung. Ich beschränke mich in meiner Beurteilung zumeist darauf, ob mich die kollektive Darbietung mitgenommen hat und gehe höchstens noch auf besondere Eigenheiten des Dirigenten ein, die mir aufgefallen sind: Das Schulterzucken von Gustavo Dudamel, die Mimik von Sir Jeffrey Tate, wie Jun Märkl den Brahms tanzte, solche Dinge halt.

Und jetzt, nach Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester mit Mahlers 9. Sinfonie in der Elbphilharmonie, wünsche ich mir zum ersten Mal das Vokabular, das Handwerkszeug und das Hintergrundwissen eines ausgewachsenen Musikkritikers. Weil ich nicht weiß, wie ich dem, was ich da erlebt habe, gerecht werden soll. Ich habe nicht sehen können, was Orchester und Dirigent miteinander verbindet, aber ich habe es gehört, so deutlich, dass es beinahe greifbar schien, und der Raum, das Publikum und das ganze Drumherum hat bei diesem Konzerterlebnis zum allerersten Mal keine Rolle gespielt. Zum Ende des letzten Satzes habe ich Rotz und Wasser geheult – lautlos versteht sich, alles andere wäre nicht weniger als ein Sakrileg gewesen. Das hat mit „klassischer“ sinfonischer Musik bisher noch niemand geschafft.

Ein neues Level.

Danke für dieses Geschenk.