Herbstbuntes

Im Sommer kam die Trendwende, aber bis zum Herbst hat es gedauert, bis ich endlich sagen konnte: Es geht mir (wieder) gut!

Weil das keine Selbstverständlichkeit ist und ich mit dem Phänomen bedauerlicherweise alles andere als alleine bin, wird es hier und jetzt ausnahmsweise konkret: Wenn ihr „in einem gewissen Alter“ seid, entweder schleichend oder scheinbar plötzlich gesundheitlich so einiges den Bach runter zu gehen scheint und bei geneigten Zeitgenössinnen als Zugabe die Migräne massiv eskaliert: Sucht euch eine Hausärztin oder Gynäkologin (m/w/d), die sich mit Wechseljahresbeschwerden und deren Behandlung auskennt. Und zwar wirklich auskennt, im Sinne von: Wenn eine Strategie nicht funktioniert, wird nicht mit den Schultern gezuckt, sondern eine andere ausprobiert. Das ist nicht so einfach, ich weiß. Aber es kann den Unterschied zwischen „körperlich/mental wieder fit“ und „lebensunfroh und (nahezu) arbeitsunfähig“ ausmachen.

Soweit dazu.

September

Der September begann mit einem Werkstattkonzert in der Klangmanufaktur, welches bei mir ohne jeden Nachhall verpuffte. Nicht wegen schlechter Tagesform, das Trio bestehend aus Violine, Cello und Flügel hat mich einfach nicht berührt. Kann passieren.

Zur Langen Nacht der Literatur Hamburg hatte ich mir eine Lesung von Burghart Klaußner in der Freien Akademie der Künste Hamburg ausgesucht. Zum einen, weil ich Burghart Klaußner mag und zum anderen, weil ich noch nie im Gebäude der Freien Akadamie der Künste Hamburg war. Klaußner las aus „Ich und die anderen“, den Erinnerungen des Literaturkritikers, Journalisten (FAZ, DIE ZEIT) und ehemaligen Akademie-Präsidenten Ulrich Greiner. Außerdem plauderten die beiden über Greiners Karriere, das Schreiben – was ich bis dahin nicht wusste: Klaußner hat selbst bereits ein Buch veröffentlicht und versucht sich zurzeit an seinen eigenen Memoiren – sowie über dies und das. Die ehemalige Kollegin, die ich zufällig vor Ort antraf, fand, dass sei doch ein recht eitles Geplauder zweier alter, weißer Männer gewesen. Ganz unrecht hatte sie nicht, vor allem Greiner gab sich auf tendenziell unsympathische Art und Weise selbstgefällig (das Wort „standesbewusst“ kam mir in den Sinn). Allein das Buch „Ich und die anderen“ zu betiteln ist ja für sich genommen schon erhellend. Ich fühlte mich trotzdem gut unterhalten. Schon weil Burghart Klaußner einfach ein phantastischer Vorleser ist.

Dem Inhalt und Format entsprechend völlig anders, aber ebenfalls hervorragend war der Vortrag von Joachim Król im Rahmen des Harbour Front Literaturfestival: Unter dem Titel „Momentum – Ein Roger Willemsen Abend“ präsentierte er im Kleinen Saal der Elbphilharmonie die im gleichnamigen Buch erschienenen kurzen und sehr kurzen Texte des 2016 verstorbenen Publizisten, Moderators und Filmproduzenten, der in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Die mit den Textpassagen eng verwobenen musikalischen Parts besorgten – auch das angemessen hochklassig – Franziska Hölscher (Violine) und Martin Klett (Klavier). Ein gelungenes Gesamtkunstwerk! Wie ich hörte, soll es in Zukunft weitere Termine geben.

Oktober

Semperoper
Semperoper

Die Idee, eines Tages die Semperoper zu besuchen, ist schon viele Jahre alt. Mitte Oktober war es endlich soweit: Mit Schwestern, Schwager und Mutter ging es in die Neuinszenierung des „Falstaff“, der letzten Oper von Giuseppe Verdi. Regisseur Damiano Michieletto hatte den Stoff in die jüngere Vergangenheit transferiert und aus der Titelfigur einen abgehalfterten Rockstar gemacht.

Nicola Alaimo als Falstaff warf sich vollständig in die Situation (wie die geschätzte Frau Novemberregen es ausdrücken würde), was ganz wesentlich zum Gelingen dieser Übung beitrug. Musikalisch überzeugte die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Daniele Gatti. Dieser, so erfuhren wir im Nachgespräch mit Nicole Chirka (Mrs. Meg Page) und Simeon Esper (Bardolfo), hatte an der Ausgestaltung der Inszenierung keinen unwesentlichen Anteil. Wie Esper, selbst US-Amerikaner, mit einiger Belustigung herausstellte war neben der musikalischen Leitung und der Regie auch die Gestaltung des Bühnenbilds und des Lichts in italienischer Hand, zudem waren fünf der zehn Rollen mit Italienerinnen und Italienern besetzt. Italienische Verhältnisse in Sachsen also – der Produktion hat es jedenfalls gut getan. Mit den meisten zeitgenössischen Operninszenierungen, die ich bisher sah, hatte ich Probleme. Weil es in diesen oft zu drastischen Diskrepanzen zwischen Libretto/Musik und dem Narrativ kommt, welches die jeweilige Inszenierung zu vermitteln sucht. Bei diesem „Falstaff“ hat niemand auch nur versucht, gegen das Stück zu arbeiten. Von dem Ergebnis war sogar der bis dato wenig opernaffine Schwager angetan.

Immer noch schwer geflasht bin ich vom Auftritt des Vokalensembles Tenebrae unter der Leitung von Nigel Short im Großen Saal der Elbphilharmonie, eine von vier Veranstaltungen des Schwerpunkts „Arvo Pärt 90“ (gerne hätte ich sie alle besucht, aber das passte zeitlich leider nicht). Für mich überraschend waren es dann aber gar nicht so sehr die Pärt-Stücke, sondern die Interpretationen der Werke von Sir John Taverner und Eric Whitcare, die mich nachhaltig beeindruckten. Das große Finale bildete „Spem in alium“ von Thomas Tallis mit der Prelude „Nulla est finis“ von Unsuk Chin und nicht nur zu dieser Gelegenheit bespielten Tenebrae auch den Raum: Der Chor teilte sich in verschiedene Gruppen auf, von denen einige sich im Zuschauerraum platzierten. In vielen Momenten des Abends hätte ich mir die Atmosphäre und Akustik einer Kirche gewünscht. Andererseits betonte der vielfach als trocken gescholtene Große Elphi-Saal die Präzision des Vortrags. Da kann halt niemand ungestraft schummeln. Oder, wie Mengguang Huang es auf „bachtrack“ formulierte: „When Tallis’ forty-part monument finally rose from this sonic mist, it felt immense yet transparent within the crystalline acoustics of the Elbphilharmonie – an experience with rare structural clarity, unattainable in the resonant haze of normal cathedrals.“

Zum Abschluss des Monats hatte ich ein weiteres „Blind Date“ im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, das sich als argentinischer Tango mit dem Sónico Tango Orchestra entpuppte. Dargeboten wurden Kompositionen und Arrangements von Eduardo Rovira und Astor Piazzolla, in der ersten Hälfte zu siebt und in der zweiten als Oktet mit zwei Bandoneon-Spielern. Das Ensemble ist in Brüssel beheimatet, wobei unter den Mitgliedern nur ein Belgier ist (Ivo De Greef am Flügel). Der Rest stammt aus den USA, Spanien, Frankreich und – zumindest ursprünglich – Argentinien.

Und sonst so

Ich war außerdem zum ersten Mal in der Sammlung Falckenberg (zum Tag des offenen Denkmals) und es wird bestimmt nicht das letzte Mal gewesen sein.

Dann staunte ich über Anders Zorn, dem zurzeit eine große Sonderausstellung in der Hamburger Kunsthalle gewidmet ist. Den Bericht darüber muss ich nicht selbst schreiben, sondern kann an Herrn Buddenbohm verweisen, dessen Anmerkungen ich mich voll und ganz anschließe. Mit der Ergänzung, dass nicht nur die Gemälde, sondern besonders die in seinem Beitrag nicht abgebildeten Radierungen Zorns eine Klasse für sich darstellen.

Anders Zorn, Die Kunstsammlerin Isabella Stewart Gardner (1894)
Die Kunstsammlerin Isabella Stewart Gardner (1894)
Anders Zorn, Junge rauchende Frau (ca. 1892)
Junge rauchende Frau (ca. 1892)

Das Kultur- und Musikangebot Dresdens muss ich unbedingt vertiefen und mir bei nächster Gelegenheit vor allem den Kulturpalast näher anschauen. Dieser beherbergt neben der Dresdner Philharmonie die Zentralbibliothek der Sächsischen Bibliotheken Dresden, das Kabaret DIE HERKULESKEULE, das COSMO Wissenschaftsforum und das ZfBK – Zentrum für Baukultur Sachsen. Eine interessante Mischung.

Als Herausforderung entpuppte sich indes die Navigation durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Wir besuchten die königlichen Paraderäume Augusts des Starken, das Historische und das Neue Grüne Gewölbe (Residenzschloss) sowie den Mathematisch-Physikalischen Salon (Zwinger). Allerdings haben Zwinger und Residenzschloss unterschiedliche Öffnungszeiten und auf der Webseite wird man diverse Male im Kreis geführt, bevor sich einem erschließt, was wo angeboten wird und welches Ticketmodell zu den eigenen Wünschen passt. Hilfreicher war da ein Faltblatt mit Übersichtskarte, welches ich bei Dresden Information am Hauptbahnhof eingesteckt hatte.

Dresdner Zwinger
Dresdner Zwinger
Automat im Mathematisch-Physikalischen Salon
Automat im Mathematisch-Physikalischen Salon

Merke: Für Manches ist Print immer noch unschlagbar!

Internationales Sommerfestival 2025 auf Kampnagel

Immer diese guten Vorsätze… Der Sommerfestival-Bericht hätte eigentlich noch vor der Roald-Postkarte erscheinen sollen. Aber vor der Reise nach Lettland schaffte ich gerade Mal das erste Drittel und in der Woche nach dem Törn nur wenig mehr als das zweite Drittel. So groß war mein Verlangen nach einer ausgedehnten Schreibtisch- bzw. Computerpause lange nicht. Und das letzte Drittel dauert sowieso immer am Längsten.

Aber nun!

Auch wenn ich in der letzten Festivalwoche bereits auf See war, sind es letztlich noch sechs Sommerfestival-Veranstaltungen geworden: fünf auf Kampnagel und eine im Volksdorfer Museumsdorf.

Marlene Monteiro Freitas: Nôt (Eröffnung)

Das sattsam eingeübte Eröffnungsprozedere wurde in diesem Jahr empfindlich gestört: Pünktlich zum Beginn des Sommerfestivals hatte ver.di die tarifbeschäftigten Kampnagel-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter zu einem dreistündigen Kurzstreik aufgerufen.

Lohngerechtigkeit für [K] JETZT!
Lohngerechtigkeit für [k] JETZT!
Die Eröffnungsveranstaltung fand zwar statt, der Beginn musste jedoch um eine Stunde nach hinten verschoben werden. Das gab Kampnagel-Intendantin Amelie Deufelhard und Festivalleiter András Siebold ausnahmsweise reichlich Zeit, sich über das Programm auszubreiten (die dies aber kaum nutzten). Den Sekt musste ich aus Migränegründen stehenlassen und eine Brosda-Rede gab es urlaubsbedingt auch nicht, dafür aber Beiträge von Staatsräten Jana Schiedek (Hamburger Behörde für Kultur und Medien) und Professor Tricia Rose (Brown University).

Essen - Trinken
Essen – Trinken

Ersteren bekam ich allerdings gar nicht mit, weil ich viel Zeit in den beiden Essensschlangen (1. Bestellen/Bezahlen und 2. Abholen) verbrachte. Um am Ende aufgrund mangelnder Kommunikation zwischen den beiden Stationen unnötigerweise nicht das zu bekommen, was ich eigentlich haben wollte und mir prompt den Ketchup zu den Verlegenheits-Fritten aufs Shirt zu kleckern. Eine der beiden Schlangen (und das Ausweichen auf die immerhin okayen Skinny Fries) hätte ich mir sparen können: Es gab nicht wenige Menschen, die das per Aushang kommunizierte Prozedere völlig straflos ignorierten und in der Abholschlange bestellten, bezahlten und bekamen. Aber gut, es war ja genügend Zeit da. Und nächstes Jahr weiß ich es besser und bringe zur Eröffnung eine Stulle mit.

Ach ja, das Stück: Mein rot bekleckertes Shirt passte ganz gut zur Show und der Titel der Nachtkritik, „Keuchen, Kotzen, Kacken“, brachte die Inszenierung sonstiger Körperflüssigkeiten sehr gut auf den Punkt. Immerhin wurde das Kotzen und Kacken lediglich pantomimisch ausgeführt, zusammen mit der Geräuschkulisse reichte es aber zu einem veritablen Würgereflex. Wohl nicht nur bei mir: Menschen verließen zahlreich das laufende Stück, wenn auch mehrheitlich nicht auf den teureren Rängen. Das alptraumhafte „Nacht“-Szenario – in dem ich, anders als Programmheft und Text des Abendzettels behaupteten, keine Spur von einer Auseinandersetzung mit „1.001 Nacht“ erkennen konnte, was mich aber überhaupt erst dazu bewogen hatte, eine Karte zu erstehen – hätte man sicher auch ohne diese zu allem Übel in aller Ausführlichkeit und unter Einbeziehung von Teilen des Publikums ausgeführten, hm, Spezialeffekte transportieren können. Aber wenn es denn unbedingt sein muss: Liebe Leute auf Kampnagel, ihr hattet mir zwei Tage vor dem Event „Hinweise zu sensorischen Reizen“ per E-Mail zukommen lassen, in denen vor „Stroboskoplicht und lauter Musik“ gewarnt wurde. Auch die Programmbeschreibung auf der Webseite enthielt diese Triggerwarnung. Macht es doch bitte vollständig und schreibt „Darstellung von körperlicher Gewalt, Darstellung von Blut, Erbrechen, Defäkation“ dazu. Bei bei anderen Stücken (beispielsweise „A Year Without Summer“ von Florentina Holzinger) habt ihr es gemacht, warum um Himmels Willen nicht bei „Nôt“?!

Miet Warlop: Inhale Delirium Exhale

Auch bei Miet Warlop gab Verzögerungen im Betriebsablauf, allerdings aus technischen Gründen: Ein Performer war ausgefallen, sodass Warlop selbst einspringen, das Stück umgestellt und neu geprobt werden musste. Das gab mir Zeit zur Nahrungsaufnahme. Die Verpflegungs-Logistik war ab Festivaltag 2 unkompliziert und ich aß ein leckeres Gemüse-Curry.

Warum die erwähnten Anpassungen nicht ganz unproblematisch waren, erschloss sich bereits wenige Minuten nach Beginn der Aufführung. Große Ballen mit sehr viel Stoff ergossen sich da aus der Höhe, Stoffbahnen wurden mit maschineller Unterstützung auch wieder aufgewickelt, die Tänzerinnen und Tänzer rannten und sprangen um die Röhren, auf denen die Stoffe aufgewickelt waren; all dies wirkte zeitweise nicht sonderlich souverän oder auch nur kontrolliert. Ich konnte mich nicht uneingeschränkt auf die erzeugten Bilder konzentrieren, so sehr hat mich gestresst, dass sich praktisch jeden Moment jemand hätte verletzten können – noch ein Alptraum also, aber einer für den Arbeitsschutz. Diese Ablenkung gepaart mit dem Wissen darum, dass ich das Stück nicht so sah, wie es geplant war und dass einige Effekte auch sichtbar nicht funktionierten wie gedacht, schmälerten den Genuss. Auf der anderen Seite behielt András Siebold recht mit seiner Ansage: Ich war Zeugin einer einmaligen Performance.

Apropos Ansage: Denjenigen im Publikum, die noch ein Ticket für die Aufführung von „Nôt“ im Anschluss hatten, teilte Siebold sinngemäß und unter Augenzwinkern mit: „Sie verpassen ungefähr die ersten zwanzig Minuten, in denen wird aber nur gekotzt und gekackt“.

Da hätte ich beinahe etwas gesagt.

Nesterval: Das alte Dorf

Wie bereits erwähnt war es mir im ersten Anlauf nicht gelungen, Karten für „Das alte Dorf“ zu ergattern: In Hamburg herrschen mittlerweile wienerische Verhältnisse, wenn ein Nesterval-Stück in den Vorverkauf geht. Allerdings war das diesjährige Gastspiel auch dadurch geprägt, dass es nur ganze fünf Vorstellungen gab.

Museumsdorf Volksdorf
Museumsdorf Volksdorf

Das mag am dem mit der Location verbundenen Aufwand gelegen haben, wurde doch das gesamte Volksdorfer Museumsdorf bespielt. Mir verhalf im Nachgang zum Vorverkauf ein zarter Hinweis auf das Blog letztendlich noch zum Erwerb eines Tickets. Wie begehrt diese waren, war selbst am Einlass noch zu spüren, vor dem hitzige Wortgefechte um die Rangfolge auf der Warteliste ausgetragen wurden.

In „Das alte Dorf“ wird die Geschichte der Bauerstochter Anna-Lisa erzählt, die eigentlich den auswärtigen („dosigen“) Knecht Johannes aus Fulda heiraten sollte. Anstatt der Hochzeit wohnt das Publikum, das zunächst in Familien als Gäste entweder des Bräutigams oder der Braut eingeteilt wird, jedoch der Beerdigung Anna-Lisas bei. Beziehungsweise dem Trauerzug inklusive eines von Pferden gezogenen historischen Bestattungswagens. Um zu erfahren, wie es zum Tod Anna-Lisas kam, reisen die Gäste zusammen mit den Charakteren der Handlung zurück in die Zeit. Wie bei fast allen von mir bisher besuchten Nesterval-Stücken hing das individuelle Theatererlebnis sehr davon ab, welchen Figuren man folgte. Da habe ich vom Schauspielerischen her inzwischen meine Lieblinge. Was für sich genommen aber keine Garantie ist: Der „Das alte Dorf“ kam mir vergleichsweise lahm vor und die Erzählweise in Rückschritten funktionierte nach meinem Empfinden nicht sonderlich gut. Irgendwie unpassend (im Sinne von „too much“) erschien mir auch das „Lohengrin“-Vorspiel als musikalische Untermalung ganz zu Anfang. Als Gesamtkunstwerk und Event hätte ich „Das alte Dorf“ aber auf keinen Fall verpassen wollen. Und wie toll ist denn bitte das Museumsdorf selbst, da muss ich unbedingt nochmal hin – vielleicht schon zum Erntefest am kommenden Wochenende.

Übrigens kommt in einer Szene des Stücks ein Text vor, der unmittelbar im Anschluss als Zitat aus dem ersten Teil der „Sissi“-Trilogie identifiziert wurde. Für diese prompte Auflösung möchte ich mich ausdrücklich bedanken, hätte ich doch sonst bis zum Ende der Aufführung darüber rätseln müssen. Dabei war ich bereits ausreichend abgelenkt von dem Viechzeuch im Dorf, zum Beispiel diesem einen federfüßigen Zwergpuschelhuhn, welches sich auch von höchster Dramatik nicht im Mindesten beeindruckt zeigte und den Tönen, die sich nach längerer Überlegung und kurzer Vergewisserung als die Verlautbarungen eines Truthahns erwiesen. Dass es sich auch beim Abschlusssong „Chapel of Love“ sehr wahrscheinlich um ein Zitat beziehungsweise um eine Referenz handelte – der Abspann von „Four Weddings and a Funeral“! -, ist mir dagegen erst Tage später aufgegangen.

akua naru, Tyshawn Sorey, Anta Helena Recke, Ensemble Resonanz: Longing to tell

Kommen wir zum ersten Festival-Highlight. Im Programm wurde „Longing to tell“ einerseits als „Blues Opera“, andererseits als Konzertinszenierung bezeichnet – die Genrefrage sowie der Anteil des Szenischen wird ausführlich in der Nachtkritik behandelt. Nach meinem Empfinden trifft es „Blues Oratorio“ am besten.

Basierend auf dem gleichnamigen Buch von Professor Tricia Rose wird die Lebensgeschichte von Linda Rae dargestellt, einer hellhäutigen Schwarzen, deren Leben lange Zeit von Sex, Gewalt und Drogenmissbrauch geprägt ist. Auf jeder Stufe des siebzehnteiligen Librettos wird vermittelt, wie sehr systemisch bedingte Benachteiligung, struktureller Rassismus und Kriminalisierung diesen Teufelskreis befeuern. Die Abwärtsspirale wird erst durchbrochen, als Linda Rae am absoluten Tiefpunkt ankommt und sich deren Ursachen bewusst wird. Ich konnte den Text überraschend gut verstehen, war allerdings doch froh über die ausgeteilte zweisprachige Synopsis, die in kurzen Sätzen die Handlung der jeweiligen Teile zusammenfasste.

Musikalisch bewegt sich „Longing to tell“ zwischen Hip-Hop, Blues, Gospel, Jazz und Soul. Als Erzählerin und in der Rolle der Linda Rae stand akua naru zwar als Person im Vordergrund, die „synergetische Zusammenarbeit zwischen den Texten und der Stimme von akua naru und der musikalischen Komposition von Tyshawn Sorey“ (Abendzettel) war aber durchgehend spürbar und der Anteil insbesondere der dialogischen Parts der Sängerinnen und Sänger – Monique B. Thomas, Raymond Thompson und Journi Sings – am harmonisch-dynamischen Gesamteindruck ebenfalls nicht zu unterschätzen. Das Ensemble Resonanz steuerte Klangfarbe und Atmosphäre bei. Sicherlich hätte das Stück auch ohne Streicher funktioniert, aber so war es eben noch runder, ausdrucksvoller und facettenreicher. Ebenso wie die Geschichte von Linda Rae endet „Longing to tell“ auch musikalisch auf einer energetischen, hoffnungsvollen Note, die das Publikum von den Sitzen riss.

Das Künstlergespräch mit akua naru, Tricia Rose und Anta Helena Recke (moderiert von András Siebold) im Anschluss brachte weitere Erkenntnisse über Motivation und Entstehungsprozess des Stücks.

Ich habe geweint, gelacht, mitgelitten, mitgesungen und viel gelernt; alles in einer Spanne von rund drei Stunden. Besser kann man es beinahe nicht machen.

Davi PontesWallace Ferreira: REPERTÓRIO N. 3

Das Künstlergespräch zu REPERTÓRIO N. 3 zerfaserte leider etwas in Übersetzungsproblemen. Was besonders schade war, denn ich hätte etwas mehr Kontext gebraucht, um das Stück zu begreifen. Immerhin wurde mir klar, wie viel Improvisation ich da kurz zuvor gesehen hatte.

Künstlergespräch (u.a.) mit Davi Pontes und Wallace Ferreira
Künstlergespräch (u.a.) mit Davi Pontes und Wallace Ferreira

Unter anderem deshalb hätte ich den Auftritt von Davi Pontes und Wallace Ferreia, die unterbrochen von statischen Phasen immer wieder minutenlang bis auf weiße Sneakers und weiße Socken splitterfasernackt mal mehr, mal weniger synchron ohne jegliche musikalische Begleitung durch den Raum stapften und Zuschauerinnen und Zuschauer ungefähr zu gleichen Teilen amüsierten, peinlich berührten und irritierten, nicht mit „Tanz“, sondern mit „Performance“ übertitelt.

Davon abgesehen traue ich künftig Aussagen wie „keine Angst, Sie werden nicht einbezogen“ grundsätzlich nicht mehr, zumindest nicht auf Kampnagel. Für mich ein Ärgernis, das ungefähr gleichauf rangiert mit Triggerwarnungen, bei denen die Hälfte fehlt (siehe oben).

Oona Doherty: Specky Clark – a Series of Theatrical Images

Auch bei „Specky Clark“ gab es relativ wenig Tanz. Dafür aber viel Theater, was man vorher wissen konnte – the clue lies in „a Series of Theatrical Images“ – und es war schlichtweg großartig. Das zweite Festival-Highlight!

Oona Doherty verarbeitet in „Specky Clark“ die Geschichte ihres Ururgroßvaters, der im Alter von zehn Jahren nach dem Tod seiner Mutter zu Verwandten nach Belfast geschickt wird und vor Ort in einer Schlachterei arbeiten muss. Dort kommt es an Samhain zu unheimlichen Begegnungen, unter anderem mit einem Schwein, das Specky kurz zuvor hatte töten müssen.

Sehr froh war ich über die „mitspielenden“ Übertitel, sonst hätte ich wohl bei weiten Teilen des vom irischen Schauspieler Stephen Rea vorgetragenen Textes passen müssen. Das Tempo erschien am Anfang etwas zu langsam, was sich aber in der Gesamtrückschau auf das Stück relativierte.

Einen Extra-Stern verteile ich für die Musik von Lankum!

HauptplatzHauptplatz

Verkabelt (innen)
Verkabelt (innen)

Die Gestaltung des Festival Avant-Garten von JASCHA&FRANZ hat mir gut gefallen. Neben der an Straßen- und Ortsschilder erinnernden Beschilderung stach als wesentliches Desginelement die Nachbildung von Stromtrassen heraus. Dieses wurde auch im Foyer aufgenommen.

Foyer
Foyer
Avant-Garten
Avant-Garten
Boy Division Fernsehgarten
Boy Division Fernsehgarten

Vom Boy Division Fernsehgarten bekam ich leider nur die letzten Töne mit. Dafür schaffte ich es zum ersten Mal, einen Kopfhörer für eine der JAJAJA-„Radio Atopia“-Parties  zu ergattern. Leider war ich an dem fraglichen Abend schon ein bisschen zu müde, um das auch vollends genießen zu können und meinen Musikgeschmack traf die Auswahl auch nicht so ganz. Trotzdem, endlich mal mitgemacht!

Gerne hätte ich auch den Auftritt von Eda Tanses im Rahmen der Gesprächs- und Konzertreihe „Love & Labour“ auf der Waldbühne genossen. Allerdings gab es Probleme bei der Einhaltung des Zeitplans. Wenn zehn Minuten nach der angekündigten Startzeit erst der Soundcheck beginnt, passt das im Zweifel so gar nicht zur eigenen, auf andere Veranstaltungen abgestimmten Zeitplanung. Wer ohnehin nur als Freigänger auf dem Gelände unterwegs war, wird sich daran aber nicht gestört haben. Allein, es war nicht die einzige Abweichung.

The show must go online
The show must go online

Auch beim Draußenprogramm schien sich in diesem Jahr ein wenig Sand ins Getriebe geschlichen zu haben.

Die persönliche Festival-Premiere No. 2: Beim Codo-Buchstand habe ich in diesem Jahr nicht nur gestöbert, sondern tatsächlich auch ein Buch gekauft; „Arbeiten“ von Heike Geißler nämlich. Der Text ist Teil einer Reihe des Verlags Hanser Berlin, in der diverse Lebensthemen essayistisch behandelt werden. „Altern“ von Elke Heidenreich muss ich vielleicht nicht zwingend lesen, aber sehr wahrscheinlich „Spielen“ von Karen Köhler und „Wohnen“ von Doris Dörrie und möglicherweise auch „Essen“ von Alina Bronsky.

Oona Doherty: Death of a Hunter (2018)
Oona Doherty: Death of a Hunter (2018)

Bleibt noch die Präsentation von Werken von Oona Doherty in der Vorhalle. Ich mache es kurz: Mit „Death of a Hunter“ konnte ich wenig bis nichts anfangen.

Oona Doherty (Filmprojektion)
Oona Doherty (Filmprojektion)

Von den Kurzfilmen fand ich „Carpet“ super. Der Rest sprach nicht zu mir.

Aus bereits genannten Gründen habe ich leider einiges verpasst, darunter bedauerlicherweise auch „Der Gipfel“ von Christoph Marthaler.

Vielleicht kann ich das mit dem Sommerfestival und dem Urlaub im nächsten Jahr doch noch etwas optimieren. Ich kann es mir jedenfalls vornehmen.

Sommersonnenwende

Ich traue dem Trend: Es geht aufwärts! Nicht linear, aber immerhin tendenziell. Der Juli ist erreicht und damit auch zwei berufliche Meilensteine, von denen einer hoffentlich zur weiteren Besserung beitragen wird.

In der Zwischenzeit berichte ich über die Monate Mai und Juni.

Mai

Im Mai war ich erstmals bei „Wir sind spät, aber es ist noch heute“, der „MusikFilmLeseBühne“ mit Julia Herrgesell, Herbert Hindringer, Katrin Seddig (Text), Katharina Stiel und Thea Seddig (Film) sowie wechselnden musikalischen Gästen im Nachtasyl. „WSSAEINH ist ein Gesamtkunstwerk, künstlerisches Experiment und Antwort auf ungestellte Fragen, so unterhaltsam wie fordernd, hart aber schön“, so die Beschreibung. Das trifft es sehr gut und das Nachtasyl mit seiner Wohnzimmeratmosphäre plus Bar ist die perfekte Spielstätte dafür. Der Abend im Mai fand im Rahmen des Festivals „Hamburg liest die Elbe“ statt und war daher entsprechend wasser- bzw. elbelastig. Die Musik stammte von Doro Offermann (Saxophon) und ­Maria Rothfuchs (Kontrabass). Insgesamt war es eine sehr abwechslungsreiche, hm, Zusammenstellung? Collage? Ich war jedenfalls nicht zum letzten Mal dabei. Im Juni konnte ich leider nicht, aber wenn ich es richtig gesehen habe, ist der nächste Termin im September.

Meine erste LIGNA-Erfahrung führte mich 2021 in den stillgelegten Kaufhof Mönckebergstraße. Bei „Das Wunder von Hamburg – eine Wallfahrt zum Elbtower und anderen Ruinen“ steigt das Publikum in einen fahrenden Theaterbus und reist zu fragwürdigen Bauprojekten beziehungsweise deren Resten in der Stadt.

Kurzer Olaf
Kurzer Olaf

Neben dem Elbtower, im Hamburger Volksmund mittlerweile auch „kurzer Olaf“ genannt, lagen unter anderem die Esso-Häuser auf St. Pauli, die Europapassage, der Neubau der Gänsemarkt-Passage – eine weitere Benko-Hinterlassenschaft – und der Ort, an dem die Kühne-Oper entstehen soll auf der Route der performativen Stadtrundfahrt. Auch das seit Jahren brachliegende Holstenareal wurde zumindest filmisch berücksichtigt. Ein amüsanter Nebeneffekt der etwas anderen Stadtrundfahrt waren die erstaunten Blicke der Passanten. Wir müssen ein lustiges Bild abgegeben haben; nicht nur passiv zuhörend und zuschauend hinter der Glasfront des umgebauten LKW, sondern auch, entsprechenden Anweisungen über Kopfhörer folgend, auf auf unseren Wegen durch die Europapassage, auf der Straße unterhalb der ehemaligen Karstadt-Brücke und auf dem Platz gegenüber der Elbtower-Baustelle. Allesamt durch das LIGNA-Team poetisch verpackte, aber dessen ungeachtet haarsträubende Stories, aus denen klar wird: Wenn Investoren und Spekulanten mit Versprechungen und Geldern winken, haben nicht nur Bedürfnisse und Wünsche der Stadtgesellschaft allzuoft das Nachsehen, sondern auch die kommunalen Haushalte. Solche Touren ließen sich in vielen Städten problemlos nachbilden, nicht nur in Deutschland. Sie sollten Pflichtprogramm für Entscheidungsträgerinnen und -träger sein.

re:publica 25: Generation XYZ
re:publica 25: Generation XYZ

Über die re:publica 2025 in der STATION Berlin hätte ich unter normalen Umständen einen eigenen Bericht geschrieben.

Digitalminister auf Stippvisite
Digitalminister auf Stippvisite

Auf den ersten Blick stellte sich die Veranstaltung als ein gigantisches, alle Sinne überwältigendes, als Festival getarntes, mediales und politisches Schaulaufen dar. Ich verbrachte den Großteil des ersten Tages meines re:publica-Debuts damit, mich zurecht zu finden. Wo ist was, wie kommt man am Schnellsten von A nach B und zurück? Wie ist die Verpflegungssituation? Wo ist die Kloschlange am Kürzesten? Wie umgehen damit, dass alles vermeintlich besonders Interessante zur gleichen Zeit stattfindet? Wann die Zeit finden, sich mit Leuten zu verabreden?

Ost-West-Begegnung auf der ARD ZDF Media Stage
Ost-West-Begegnung auf der ARD ZDF Media Stage

Die vorläufige Schlussfolgerung, mehr nach Leuten zu gucken und nicht primär nach Themen, habe ich am zweiten und dritten Tag umzusetzen versucht. Überraschenderweise hatte ich mich Ende deutlich mehr mit beruflichen beziehungsweise Studiumsthemen beschäftigt als mit privaten Interessen. Überrascht war ich auch darüber, wie wichtig, ja nachgerade wohltuend das für mich war (Stichwort „Therapiestunde zur Verwaltungsdigitalisierung“). Dabei konnte ich meine ganz und gar privat finanzierte Teilnahme mangels entsprechender Anerkennung bedauerlicherweise nicht einmal als Bildungsurlaub abwickeln.

Keine digitale Sau: Rosalinde
Keine digitale Sau: Rosalinde

Bei einem „Das Festival für die digitale Gesellschaft“ werden naturgemäß hauptsächlich digitale Säue durchs bundeshauptstädtische Dorf getrieben. Aber eben nicht nur. Ein Beispiel war die sehr gut besuchte und ebenso ernüchternde wie ermutigende Podiumsdiskussion „Wer hat Angst vor den Wechseljahren?“ mit Miriam SteinMandy Mangler und Franka Frei (moderiert von Franzi von Kempis).

Podiumsdiskussion: "Wer hat Angst vor den Wechseljahren?"
Podiumsdiskussion: „Wer hat Angst vor den Wechseljahren?“

Weitere Highlights waren Natascha Strobl mit „Vom Schwarzhemd zu TikTok. Postmoderner Faschismus“, Dr. Pop, Diane Weigmann, Ralph Kink (GEMA), Annelie AUFMISCHEN und Nina Fiva Sonnenberg mit „Next Level Sound? Wie KI die Musikwelt verändert“, Vera Magali Keller und Vivian Kube mit „Legal, illegal, scheißegal? – aktivistische Rechtsberatung gegen die europäische Rechtstaatlichkeitskrise“ und Paul Yoshio Steinwachs mit „Pop-Kultur als generationsübergreifender Rettungsschirm: Mit Star Trek, Yoda und Satire gegen den Wahnsinn der Gegenwart“. Gut gefallen hat mir auch die Podiumsdiskussion „Big Tech-Regulierung: Wer setzt unsere Rechte durch?“ mit Klaus Müller (Präsident Bundesnetzagentur), Andreas Mundt (Präsident Bundeskartellamt) und der BfDI Louisa Specht-Riemenschneier unter der Moderation von re:publica-Mitgründer Markus Beckendahl. Die persönliche Begegnung mit „Menschen aus dem Internet“ kam dabei fast ein bisschen zu kurz. Immerhin kann ich nun einigen weiteren Profilnamen Gesichter und Stimmen zuordnen. Es war mir ein großes Vergnügen! Ob ich im nächsten Jahr wieder teilnehmen werde? Noch unklar. Im Prinzip gerne wieder, aber vielleicht nicht jedes Jahr, sondern eher so alle zwei oder drei Jahre? Es wird sich zeigen.

Juni

Sir Simon Rattle hatte ich schon ein paar Mal live erleben dürfen. Aber das BRSO noch nicht, welches sich zu den besten Orchestern Deutschlands und – jedenfalls nach Meinung einer 2023 vom Magazin bachtrack befragten Kritikerinnen- und Kritiker-Jury – auch der Welt zählen darf. Höchste Zeit, das nachzuholen. Allerdings bin ich kein Fan von Pierre Boulez und konnte auch mit dem „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ nicht allzu viel anfangen. Von einem meiner Lieblingsplätze in 13 I des Großen Saals der Elbphilharmonie aus kann man aber das Geschehen im Orchester und sowohl die Gestik als auch die Mimik des Dirigenten sehr gut beobachten. Eines haben zeitgenössische Stücke nämlich in der Regel wenigstens: einen hohen Unterhaltungsfaktor. Meistens gibt es reichlich Aktion auf der Bühne (und im Falle des „Rituel“ auch verstreut im Saal: eine der sieben Gruppen, aus denen sich das Orchester in der Partitur zusammensetzt, war hinter den Sitzreihen in 15 Q platziert), oft in Kombination von Tönen, die man nicht immer auf Anhieb auch den erzeugenden Instrumenten zuordnen kann.

Der zweite Teil des Konzertabends bestand aus „Daphnis et Chloé“ von Maurice Ravel und das, so fand ich, war in jeder Hinsicht großartig.

Das letzte „Blind Date“ der Saison entpuppte sich als französisches Ensemble names „The Curious Bards“, welches skandinavische Barockmusik aufführte. Zwar verloren die vier Instrumentalmusikerinnen und -musiker und Ilektra Platiopoulou (Mezzosopran) im Laufe des Konzerts einen kleinen Teil des Publikums, der verbliebene Rest aber ließ sich begeistern. Völlig zu recht. Schon wegen der ebenso charmanten wie dynamischen Moderation Platiopoulous und des für unsere Breiten und Zeiten nicht gerade gewöhnlichen Instrumentariums, darunter eine Hardangerfiedel, eine Nyckelharpa und eine Cister.

Das eine Faszinosum des Juni-Werkstattkonzerts innerhalb der Kohärenzen-Reihe der Klangmanufaktur war der Interpret Erik Breer genannt Nottebohm. Es gibt also tatsächlich immer noch Menschen, die mit einem Genannt-Namen herumlaufen! Das andere war die Werkauswahl, darunter „Variations on Balkan Themes op. 60“ der amerikanischen Komponistin Amy Beach – die Dame war mir bis dahin völlig unbekannt – und „Regard de l’Église d’amour“ von Olivier Messiaen. Vor allem Letzteres: beeindruckend.

Das kann man auch über die Aufführung der „Complete Piano Etudes by Philip Glass“ im Großen Saal der Elbphilharmonie sagen. Die Bühne teilten sich ein Flügel, zehn Klavierbänke und nacheinander zehn Pianistinnen und Pianisten mit teils wild unterschiedlichen Auftritten und Interpretationsansätzen. Man kann Glass nämlich auch wie ein Jazzer (Christian Sands, Etuden #9 und #10) spielen. Oder als japanisches Gesamtkunstwerk (Maki Namekawa, Etuden #19 und #20) aufführen. Schade, dass der Veranstalter es so offensichtlich schwer hatte, den Saal wenigstens einigermaßen zu füllen. Ich hatte mein Ticket sehr früh erstanden in der Erwartung, es würde sehr schnell ausverkauft sein. Das hat sich in diesem Falle nicht ausgezahlt.

Dann war da noch Martin Kohlstedt auf Kampnagel. Erst fühlte ich mich unwohl in Reihe eins; das ist doch ein wenig zu sehr Präsentierteller für meinen Geschmack und ein bisschen nackenstarrig sind die ersten zwei bis drei Reihen in der K6 auch, wenn die Halle bis an die Bühne heran bestuhlt ist. Aber dann war es doch der perfekte Beobachtungsplatz. Wobei es die Nähe nicht braucht, um die Energie zu spüren, die von dort vorne ausgeht. Ich meine das so, wie ich schreibe: von irgendwo auf der Bühne, nicht zwingend ersichtlich von dem Menschen, der auf ihr steht. Man sieht schon, das da etwas passiert und man sieht die Bewegungen. Aber nicht alle Energiestöße sieht man kommen. Bei manchen gibt es keine Vorwarnung.

Jetzt kommt eine Pause bis ungefähr August und dann ist auch schon bald wieder Sommerfestival. Für das ich bisher nur eine einzige Karte habe, weil alles, was ich sonst noch sehen wollte, entweder in meine Urlaubsabwesenheit fällt oder schneller ausverkauft war, als ich gucken konnte (Nesterval – dammit!). Kann also gut sein, dass mein Sommerfestival-Artikel für die 2025er Ausgabe sehr, sehr kurz ausfällt.

Vienna Calling

Ich bin vorher schon zwei- oder dreimal in Wien gewesen, das letzte Mal vor über zwanzig Jahren. Wie die vorherigen Male war es damals eine Reise mit übersichtlichem Budget. Da fand ich Wien schon super. Wenn man aber ein etwas höheres Budget zur Verfügung hat und mitnehmen kann, wonach einem der Sinn steht, ist Wien noch viel superer. Denn günstig ist die österreichische Hauptstadt nicht. Zumindest nicht, wenn man im oder nahe des 1. Bezirks wohnen, Top-Sehenswürdigkeiten mitnehmen und in die Oper, ins Konzert und auch mal nett Essen gehen will. Dieses Mal wollte und konnte ich das alles – was für ein Luxus!

Die Reise bestand aus zwei Abschnitten: einer Studienfahrt und einem privaten Teil, wenn auch mit teils fließenden Übergängen. Zur Studienfahrt gehörten unter anderem Termine beim Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik, der Konrad-Adenauer-Stiftung, der FH Campus Wien, der OSZE und dem Bundesministerium für Landesverteidigung. Ein Mittagessen im und eine Führung durch das österreichische Parlament standen ebenfalls auf dem Programm.

Pallas-Athene-Brunnen
Pallas-Athene-Brunnen
Kunst im Parlament
Kunst im Parlament

Das historische Gebäude an der Ringstraße wurde 2018 bis 2022 umfassend saniert. Mit der Sanierung war eine weitgehende Öffnung des Hauses verbunden. Seither gibt es neben Führungen ein noch umfassenderes Angebot zur Demokratiebildung, einen Ausstellungs- und Erlebnisbereich („Demokratikum“) und einen Parlamentsshop; das Volk kann in der Parlamentsgastronomie essen und in der Parlamentsbibliothek lernen und arbeiten. Man darf im Rahmen einer Führung sogar in den Sälen des National- und des Bundesrates auf den Stühlen Platz nehmen (ich weiß jetzt, wie ein österreichischer Vizekanzler sitzt). Nur die Bestuhlung des historischen Sitzungssaals bleibt abgesperrt, um die ebenfalls historische Möblierung zu schützen. Er wird überhaupt auch nur bei besonderen Anlässen verwendet, zum Beispiel, wenn die Bundesversammlung zusammentritt.

Historischer Sitzungssaal
Historischer Sitzungssaal

Mich hat das Gebäude, vor allem aber die Offenheit des Gebäudes tief beeindruckt. Ja, ich weiß, den Reichstag in Berlin kann man auch besuchen, ich war selbst mehrfach dort. Aber ein offenes Haus im österreichischen Sinne ist der Bundestag nicht.

Was unbestritten zum Flair der Stadt gehört und in jedem Reiseführer Erwähnung findet ist die berühmte Wiener Kaffeehauskultur. So richtig konnte ich mich damit bisher nicht anfreunden. Ich bin an sich keine Kaffeehaussitzerin; ich kaufe meinen Kuchen gerne „to go“ und fläze mich damit aufs Sofa.

FENSTER CAFE
FENSTER CAFE

In Wien könnte ich mir das Kaffeehaussitzen aber glatt angewöhnen. Diese ganz spezielle Atmosphäre des In-Gesellschaft-in-Ruhe-gelassen-werdens hat schon ihren Reiz. Ich testete unter anderem das Café Museum, das Café Leopold Hawelka und das Café Prückel und obwohl ich im Museum den wahrscheinlich besten Apfelstrudel meines bisherigen Lebens genießen durfte, hat das Prückel mein Herz erobert. Im Keller gibt es sogar ein Theater!

Kaiserschmarren mit Zwetschkenröster im Prückel
Kaiserschmarren mit Zwetschkenröster im Prückel

Wo war ich noch? In der Österreichischen Nationalbibliothek natürlich. Neben dem ganz normalen Bibliotheksbetrieb gehören zu dieser fünf verschiedene Museen sowie das Haus der Geschichte Österreichs. Ich entschied mich für das Globenmuseum im Palais Mollard und den barocken Prunksaal. Beides sehr empfehlenswert.

Globenmuseum
Globenmuseum
Prunksaal
Prunksaal

Falls ich künftig in die Verlegenheit kommen sollte, den Begriff „barockes Gesamtkunstwerk“ erklären zu müssen, werde ich einfach immer auf dieses Bauwerk verweisen. Wahnsinn! Nur die Sonderausstellung hat mir nicht gefallen. Beziehungsweise, dass es dort überhaupt Sonderausstellungen gibt. Der Star ist doch der Saal, da wirkten die Exponate irgendwie störend.

Zum Thema Reisebudget sei erwähnt, dass der reguläre Eintritt in das Kunsthistorische Museum stolze 21 (in Worten: einundzwanzig) Euro kostet. Das beinhaltet den Zutritt zu allen Sammlungen, Sonderausstellungen und sonstigen Angeboten des Hauses. Zumindest theoretisch, denn Richtung Gastronomie bildete sich bald eine beeindruckende Schlange und ohne reservierten Timeslot waren die Chancen auf einen Blick in die Rembrandt-Sonderausstellung äußerst gering. Weil diese Option ausgebucht war, schloss ich mich spontan einer Führung an. Zwar musste ich zu diesem Zwecke noch einmal zehn Euro auf den Tisch legen. Dafür kam ich aber mit der Gruppe an der Schlange vorbei in die Ausstellung und in den Genuss kompetenter Erläuterungen. Davon bin ich bei bildender Kunst nämlich abhängig, wenn es mir jenseits des bloßen Konsums darum geht, zu verstehen und einzuordnen. Hat sich gelohnt in diesem Fall.

Rembrandt Harmenszoon van Rijn (Selbstportrait)
Rembrandt Harmenszoon van Rijn (Selbstportrait)

Vorher hatte ich noch Gelegenheit, mich in der Kunstkammer umzusehen. Die Kunstkammer Wien beherbergt historische Sammlungen adeliger und königlicher Persönlichkeiten und gilt als Wiege des heutigen Museums. Es fällt schwer, unter den vielen spektakulären Objekten einen Favoriten zu küren, aber mir ist es gelungen!

In der Kunstkammer
In der Kunstkammer

Das ist ein Automat in Form einer Galeone von Hans Schlottheim, datiert auf das Jahr 1585. Hier kann man das gute Stück in Aktion erleben:

Fehlen noch die beiden musikalischen Höhepunkte der Reise. Ins Haus des Musikvereins trieb mich hauptsächlich, dass ich gerne einmal ein Konzert im Goldenen Saal besuchen wollte. Das ist der Saal, in dem die Wiener Philharmoniker das alljährlich in zig Länder übertragene Neujahrskonzert spielen. Die Philharmoniker passten leider nicht ins Programm, aber dafür das ORF RSO Wien unter der enthusiastischen Leitung von Maxime Pascal und mit Truls Mørk als Solist am Violoncello.

Musikverein Wien
Das ORF RSO Wien mit Maxime Pascal beim Musikverein Wien

Gegeben wurden Werke von Arnold Schönberg, Henri Dutilleux und Claude Debussy sowie eine Solistenzugabe von Benjamin Britten. Das hat mir ausnehmend gut gefallen. Schade, dass das Konzert nicht ausverkauft war. Richtig gut ist, dass man in den vorderen Parkett-Logenplätzen auf Höhe des Bühne sitzt. Man hat dadurch noch mehr als in anderen Häusern das Gefühl, Teil des Orchesters zu sein. Der Platz war auch gar nicht so teuer – ok, schon teuer, aber nicht absurd teuer.

Ganz andere Preise werden dagegen in der Wiener Staatsoper aufgerufen. Schon die Führungen schlagen mit 15 Euro zu Buche. Dafür sind sie generalstabsmäßig organisiert und in mindestens fünf Sprachen verfügbar. Wenn man eine Aufführung besucht und nicht nur hören, sondern auch etwas sehen möchte, sollte man am Eintrittspreis dennoch nicht sparen. Günstige Tickets gibt es auch – ich habe auf solchen Plätzen schon gesessen – aber dann ist es halt mehr Hörspiel als Oper.

Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper

Diesen Blick von der Mittelloge habe ich aber auch nur bei der Führung dokumentieren können.

Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper

Die Aufführung – Giuseppe Verdis „Macbeth“ in der 2020er Inszenierung von Barrie Kosky – habe ich aus einer Perspektive ein Stockwerk höher und etwas seitlicher gesehen. Dabei führte das Hauspersonal ein strenges Regiment, unter anderem mit sehr klaren Ansagen bezüglich Handynutzung und Geräuschvermeidung. Das hat entscheidend zu einem weitgehend ungetrübten Operngenuss beigetragen und fand daher meine volle Unterstützung. Gerald Finley und Anastasia Bartoli als Macbeth und Lady Macbeth haben mich nicht nur gesanglich, sondern vor allem darstellerisch überzeugt. Ich mochte die düstere Inszenierung mit dem sehr reduzierten Bühnenbild, nur die merkwürdige Nude-Kostümierung des (Bewegungs-)Chors hat mir nicht zugesagt. Zum Raum: Was für eine phänomenale Akustik! Und was für ein geniales Über- beziehungsweise Untertitelsystem! An jedem Platz, auch den Stehplätzen, gab es kleine Displays, auf denen es Informationen zum Programm in zwei und Untertitel in acht Sprachen zu lesen gab. Gesehen hat man dabei nur den eigenen Bildschirm und wenn man gewollt hätte, hätte man das Teil auch einfach eingeklappt und ungenutzt lassen können. Großartig. Wann gibt es das in Hamburg?

Lipizzanerhengst
An der Spanischen Hofreitschule

Aus dieser Wien-Reise hätte ich gut und gerne eine mehrteilige Rückschau schnitzen können, ähnlich wie ich es mit meinen Besuchen in London getan habe. Aus Zeitgründen verzichte ich dieses Mal darauf. Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen und mehr Muße für die Nachbereitung im Anschluss.

Internationales Sommerfestival 2024 auf Kampnagel

Ja, ich weiß, ich bin unverzeihlich spät! Aber weiterhin wild entschlossen, nicht mehr als unbedingt notwendig abzukürzen. Deshalb folge ich einer in meiner Familie zur Tradition gewordenen Reaktion auf verspätete Meldungen und tue einfach so, als sei noch Ende August. Das werde ich sukzessive fortführen, bis ich die Gegenwart wieder eingeholt habe.

Zunächst also der angekündigte Sommerfestival-Bericht! Sechs Veranstaltungen habe ich geschafft in diesem Jahr, vier auf Kampnagel, eine in der Seilerstraße auf St. Pauli und eine in der Elbphilharmonie. Das sind immerhin zwei mehr als 2023.

Lucinda Childs Company: Four New Works

Die Eröffnung ist grundsätzlich nett: Es gibt Sekt, ich treffe garantiert Menschen, die ich kenne, Carsten Brosda hält eine Rede (das lohnt sich eigentlich immer), András Siebold rauscht in schwindelerregendem Tempo durchs Programm und die Auftaktveranstaltungen haben mir auch meistens gefallen. Dieses Jahr hatte Lucinda Childs die Ehre mit „Four New Works“. „ACTUS“, das erste Werk, hat nicht weh getan, mich aber auch nicht sonderlich berührt. Um das zweite Werk, „GERANIUM ’64“, wertschätzen zu können, war es hilfreich, auf einem Platz nicht all zu weit von der Bühne entfernt zu sitzen und des Werkes der Künstlerin kundig zu sein oder aber wenigstens den Text des Abendzettels vorab gelesen zu haben. Ansonsten hätte ich den Bezug zu einem Footballspiel wohl nicht herstellen können. Unabhängig davon war es aber schlicht auch faszinierend, die 1940 geborene Childs selbst in Aktion zu erleben – und sei es „nur“ in Zeitlupenaktion. Das dritte Werk, „TIMELINE“, stach durch die Komposition von Hildur Guðnadóttir hervor, aus der sich nur sehr schwer ein Takt oder Puls ableiten ließ. Umso beeindruckender die individuelle und kollektive Leistung der Tänzerinnen und Tänzer. Das vierte Werk, „DISTANT FIGURE“, musste mich tänzerisch nicht überzeugen – mit Philip Glass kriegt man mich immer. Zumal die Live-Begleitung am Klavier durch Anton Bagatov erfolgte, für den Glass das der Choreographie zugrundeliegende Stück „Distant Figure (Passacaglia for Solo Piano)“ ursprünglich komponiert hatte.

Auf dem Programm standen außerdem noch zwei Klavierstücke („INTERLUDES“). Ich bin, bedingt durch den geraumen zeitlichen Abstand, inzwischen nicht mehr sicher, ob auch wirklich beide Werke vorgetragen wurden. Jedenfalls erinnere ich nur eine Pause und eines der Stücke, nämlich das, was nicht „The Poet Acts“ aus „The Hours OST“ von Philip Glass war: „Lyrical Music“ aus „Unfamiliar Weapon OST“, komponiert vom Vortragenden selbst. Der Unruhe im Saal zufolge gefiel die Unterbrechung nicht allen Anwesenden, mir dagegen sehr. Bedauerlicherweise konnte ich das Stück bis jetzt noch nirgendwo auftreiben. Bei den üblich-verdächtigen Streaming-Diensten ist es nicht gelistet. Es mag daran liegen, dass das fragliche Album „Music For Films“ bei einem russischen Label erschienen ist.

Jaha Koo/Campo: Haribo Kimchi

Bedauerlicherweise hatte ich es 2018 nicht zu den sprechenden Reiskochern („Cuckoo„) geschafft und 2020 auch „The History of Korean Western Theatre“ verpasst. Immerhin, im dritten Anlauf hat es geklappt mit mir und Jaha Koo!

Die Kulisse für „Haribo Kimchi“ bildet ein (oder eine?) Pojangmacha, das ist eine typische südkoreanische Imbissbude. Zwei Gäste aus dem Publikum werden live bekocht, derweil berichtet der Künstler und Koch von persönlich-kulinarischen Erfahrungen in Korea und als Koreaner in Europa. Zum Einsatz kommen dabei auch Musikvideos mit einer Schnecke und einem Gummibären als Protagonisten sowie ein robotischer Aal. Aus dieser auf den ersten Blick eigentümlichen Mischung entsteht eine berührende Poesie – gelegentlich haarscharf am Kitsch entlang, aber dicht daneben ist bekanntlich auch vorbei. Mich hat das vollkommen überzeugt, sowohl die einzelnen Teile als auch das Gesamtkunstwerk. Stücke von Jaha Koo gelten hiermit bis auf Widerruf als gesetzt. Ich hoffe, ich kann „Cuckoo“ und „The History of Korean Western Theatre“ irgendwann und irgendwo nachholen.

Nesterval: A Dirty Faust

Schon länger als gesetzt gelten bei mir alle Nesterval-Aufführungen und ein Widerruf ist auch nach „A Dirty Faust“ nicht in Sicht. In dem Stück wird Goethes Faust mit der Geschichte des Films „Dirty Dancing“ aus dem Jahre 1987 kombiniert, wobei ein Schwerpunkt auf dem Themen Vergewaltigung, (illegale) Abtreibung und weibliche Selbstbestimmung liegt. Aufführungsort waren verschiedene Stockwerke und Räume der alten Schule in der Seilerstraße auf St. Pauli, durch die man in Gruppen von einzelnen Charakteren mitgenommen wurde. Aufgrund der örtlichen Begebenheiten war man allerdings sehr viel unterwegs – „viel Gerenne, wenig Theater“, so die lakonische Bilanz einer der Teilnehmer. In beiden Durchläufen folgte ich „Dirty Dancing“-Charakteren. Beide Rollen waren angereichert mit Backstories, auf die die Drehbuchschreiber und -innen wohl nicht gekommen wären. Hätte ich den Film nicht gekannt, hätte ich mir allerdings keinen Reim auf die Bruchstücke machen können, die ich zu sehen bekam. Noch mehr als bei anderen Nesterval-Stücken wäre es notwendig gewesen, zwei oder drei Aufführungen zu besuchen, um eine einigermaßen vollständige Vorstellung von dem Stück zu bekommen.

Ein bisschen ungünstig war auch, dass Teile des Publikums mitten in den beiden durch eine Rahmenhandlung verbundenen Handlungsdurchläufen die Gruppen wechselten. Einerseits wurden einige Gruppen dadurch so groß, dass es in manchen Szenen räumlich eng wurde. Andererseits  brachte mich das in den Genuss einer buchstäblichen 1:1-Performance. Wäre das meine erste immersive bzw. Nesterval-Theatererfahrung gewesen, hätte ich an dieser Stelle wohl die Flucht ergriffen. Es wäre mir ziemlich sicher unangenehm gewesen. Da ich aber sowohl das Prinzip als auch den Schauspieler kannte, blieb ich drin und nahm es als Geschenk.

Zum Abschluss tanzten alle zu „(I’ve had) The Time of My Life“ und ja, es war schon auch ein ordentlicher Schuss Nostalgie dabei. Zumindest für Menschen ab einem gewissen Alter, mich inklusive. Schließlich war „Dirty Dancing“ der erste Film, den ich in einem „richtigen“ Kino gesehen habe – wenn ich mich recht erinnere, war das im ehemaligen Nordstern-Kino in Lippstadt, in dem später eine Kirche (!) Unterkunft fand – und wir haben damals in der Tanzschule alle den Mambo getanzt.

Cat Power sings Dylan

Ein bisschen Sorge hatte ich schon, als Cat Power auf die Bühne kam und mit den ersten Songs startete. Gleich zwei Teetassen standen auf dem kleinen Tischchen neben ihrem Platz und irgendwie wirkte und klang die Sängerin unsicher. Aber mit jedem weiteren Song steigerte sich Power und zog nach und nach den Saal mehrheitlich in ihren – und natürlich Bob Dylans – Bann. Ein großes Projekt und ein gelungener Abend. Ich verneige mich.

A.I.M. by Kyle Abraham: CASSETTE VOL. 1

Auch bei „CASSETTE VOL. 1“ überkamen mich nostalgische Gefühle, handelt es sich dabei doch um ein 80er- und 90er-Jahre Mixtape. Ein bisschen „Boy meets Girl“-Handlung war der Choreographie auch zu entnehmen. Mir kam es ansonsten etwas lang vor, bis das Pas de deux über eine Langversion von Extremes „More Than Words“ fast zum Schluss wieder meine volle Aufmerksamkeit forderte. Eigentlich konnte ich den Song längst nicht mehr hören, aber das war so, so schön! Mit diesem neuen Kontext werde ich das Stück jetzt wieder genießen können.

Ein bisschen fies fand ich, dass die Kritik im Hamburger Abendblatt von dessen Autor auf diversen Social Media-Kanälen mit „Love is a Battlefield“ angeteasert wurde und dann kam der Song überhaupt nicht vor! Aber dafür kann Kyle Abraham natürlich nichts.

Pop-Up Restaurant: Suvir Saran

And now to something completely different, die Zutaten: ein Zelt als Pop-Up-Restaurant, ein Sternekoch und Geschichtenerzähler, eine Sängerin (Marina Ahmad) und ein Musiker (Manao Doi) und ein indisches Drei-Gänge-Menü. Das hätte phantastisch werden können. Leider litten die Gerichte unter den sicherlich nicht optimalen Bedingungen einer Food-Truck-Küche und die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren eher an dem kulinarischen Part interessiert als an den Geschichten und der Musik. Warum Sarans Mikro nicht eingeschaltet war, erschloss sich mir auch nicht. Für ihn wurde es dadurch umso schwieriger, die Aufmerksamkeit seines Publikums zu halten. Dazu war die Veranstaltung zeitlich sehr limitiert und wirkte dadurch gehetzt. Zumindest für Einzelgäste war außerdem unbefriedigend, dass es den Wein nur flaschenweise zu kaufen gab. Ausgeglichen wurde das ein wenig durch das Glas Champagner, das als Aperitif gereicht wurde.

Irritiert hat mich die offensichtliche Werbung für die authentikka-Restaurants in Hamburg. Wurde uns da jetzt ein Sternekoch- oder ein authentikka-Menü serviert (zumal auf Einweggeschirr, ein weiterer Abzug in der B-Note)? Nichts gegen authentikka, es ist lecker da, aber die Performance fühlte sich dadurch doch ein klein wenig nach Mogelpackung an.

Festival Avant-Garten

Festival Avant-Garten

Festival Avant-Garten

Der Festival Avant-Garten wurde gestaltet von 4E, einem Team aus Architekten und -innen der HafenCity Universität Hamburg. Ich mache es kurz: Das hat mich nicht überzeugt. Die Waldbühne war schön – da kann man aber auch nicht viel verkehrt machen – und der Platz vor dem Soli-Casino. Der Rest wirkte irgendwie ungemütlich und war größtenteils verwaist. Allerdings habe ich es beispielsweise zu den Kopfhörer-Parties im Garten dieses Jahr gar nicht erst geschafft. Mir fehlt da also möglicherweise das eine oder andere Puzzlestück.

Anri Sala: Take over (Internationale)

Fehlt noch die Video-Installation „Take over (Internationale)“ von Anri Sala in der Vorhalle. Neben der Instrumentalversion der Hymne („Völker hört die Signale…“) treten in den Hauptrollen die Hände eines Pianisten und die Tastatur eines Disklaviers auf und schon deshalb fand ich das Werk großartig. Im Übrigen kam mir der Raum, in dem das Instrument stand, sehr bekannt vor.

Unterm Strich war das kein schlechter Jahrgang! Ich bin gespannt aufs nächste Jahr.

Internationales Sommerfestival 2023 auf Kampnagel

Die diesjährige Ausbeute war eindeutig zu mager: Zu ganzen vier Veranstaltungen habe ich es während des Internationalen Sommerfestivals 2023 auf Kampnagel geschafft. Immerhin, drei davon verbuche ich als Highlights.

(La) Horde/Ballet national de Marseille: Age of Content

Das Eröffnungsstück  von (La)Horde und dem Ballet national de Marseille gehörte – für mich überraschenderweise – leider nicht dazu.

Zum einen verstand ich die Story nicht, zum anderen war das Werk schlicht gute 15 bis 20 Minuten zu lang. „Marry me in Bassiani“ hatte mir seinerzeit ganz gut gefallen, „Age of Content“ hat mich dagegen gar nicht überzeugt. Schade.

Walid Raad: Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter

Das war ein ziemlicher Ritt durch die Hamburger Kunsthalle, denn dort spann Walid Raad entlang von im Gebäude des historischen Gründungsbaus verstreuten Objekten aus Fiktion und Historie (s)eine Geschichte. Zunächst schienen es nur Fragmente zu sein, die da teils im atemberaubenden Tempo und in schnellen Wechseln vorgetragen wurden. Doch nach und nach verdichteten sich die Bruchstücke, einem Mosaik nicht unähnlich, zu einem großen, verwirrenden Ganzen – letztlich, so eine der Botschaften, hängt doch alles mit allem zusammen, wenn auch bisweilen auf recht absonderliche Art und Weise.

Das Tempo, zudem in englischer Sprache, mag nicht für jeden vor Ort ideal gewesen sein. Die allermeisten Gesichter – oder so kam es mir jedenfalls vor – spiegelten aber mein eigenes Empfinden wieder: aus anfänglicher Skepsis wuchs Faszination bis hin zur Begeisterung. „Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter“ ist übrigens noch bis einschließlich 12. November 2023 per Audioguide oder in weiteren weiteren Live-Terminen zu sehen, zu hören und zu erleben.

Nesterval: Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg

Unter Unterhaltung fällt „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“ nicht. In dem Stück, welches die Verfolgung Homosexueller während der Nazizeit in Hamburg  nachzeichnet, wird das Publikum nicht geschont. Man kann es Pech nennen oder auch Glück, dass ich von Anfang bis zum Ende durchgehend der unsympathischsten (und mutmaßlich auch mit weitem Abstand sadistischsten) Figur gefolgt bin. Auf diese Weise bekam ich das volle Programm geboten, inklusive einer drastischen Folterszene. Das war herausfordernd. Gelinde gesagt. Nicht umsonst wurde zu Beginn der Vorstellung auf die Möglichkeit verwiesen, sich jederzeit herausziehen zu können und ich habe nicht nur nach dieser einen Szene ernsthaft darüber nachdenken müssen. Dabei hatte ich nicht einmal alles gesehen. Theoretisch konnte man im ehemaligen Kakaospeicher Baakenhöft über 180 Szenen als Zuschauer in Begleitung und aus der Perspektive der Charaktere erleben. In drei Stunden Spielzeit schafft man davon aber nur einen Bruchteil. Aus meiner Sicht hat das mir schon aus „Sex & Drugs & Budd’n’brooks“ bekannte Format des begleiteten Szenenwechsels auch bei diesem schweren Thema gut funktioniert – vielleicht ein wenig zu gut, ich habe lange gebraucht, bis ich den Abend einigermaßen verarbeitet hatte. Anderen ging es anders, an einer Stelle fiel gar das Wort „Holocaust-Kitsch“. Zugegeben, das Schlussbild („Niemals vergessen“) war vielleicht ein klein wenig drüber, aber meinen Gesamteindruck konnte das nicht schmälern. Ich bleibe dabei: gerne jederzeit wieder Nesterval. Thema egal.

Graindelavoix: Rolling Stone

Das Konzert fand am letzten Festivaltag in Kooperation mit dem Elbphilharmonie Sommer im Großen Elphi-Saal statt.

Ein bisschen musste ich mich leider ärgern: Im ersten Teil des Konzerts wurde ein Film auf eine weiße Leinwand projiziert, die vermutlich nicht ganz zufällig einem Leintuch glich; geht es doch in der „Erdbebenmesse“ von Atoine Brumel um jenes Erdbeben, welches der vom Grab Jesu wegrollende Stein verursacht haben soll. Auch in dem gezeigten Dokumentarfilm von 1967 wurde diese Erzählung aufgegriffen. Allein, gesehen habe ich so gut wie nichts davon: Auf den Seitenplätzen hatte man die „Leinwand“ nämlich im Querschnitt vor der Nase. Das hätte ich gern vorher gewusst. Aber letztlich war ich wegen der Musik da, nicht wegen des Drumherums, und an dem musikalische Part gab es wenig zu kritisieren. Beeindruckend.

Zum Festival Avant-Garten kann ich mich nicht verhalten, ich war nämlich gar nicht dort (außer am Eröffnungstag). Das kommt davon, wenn man die Veranstaltungen in die gesamte Stadt verstreut! So schön, spannend und interessant das im Einzelfall ist: Das richtig echte Festival-Feeling kommt dadurch eindeutig zu kurz.

In Concert: „König Arthur“ in der Laeiszhalle

Wie außerordentlich ungünstig, dass das Schleswig Holstein Musik Festival ausgerechnet meine Lieblingsstadt London als diesjährigen Schwerpunkt auserkoren hat, war ich doch im Festivalzeitraum insgesamt drei Wochen unterwegs! Immerhin, zur konzertanten Aufführung von Henry Purcells „König Arthur“ in die Laeiszhalle habe ich es geschafft. Ganz sicher war ich mir allerdings nicht, ob mir das gefallen würde. Klar, Purcell ist ein Begriff, aber gleich eine ganze Barockoper? Nicht gerade mein Sondersammelgebiet, um es bibliothekarisch auszudrücken.

Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Die Performance des Gabrieli Consort unter der Leitung von Paul McCreesh zusammen mit Anna Dennis, Mhairi Lawson, Charlotte Shaw, Jeremy Budd, Matthew Long, Malachy Frame und Dingle Yandell gestern Abend war schlichtweg mitreißend. Dabei beschränkte sich die Aufführung auf die musikalischen Teile des Werks, der gesprochene Part wurde komplett ausgeblendet. Oper ohne Handlung also. Das hätte langatmig werden können, wurde aber durch die szenischen Darbietungen der Sänger:innen äußerst lebendig. Zu meiner Überraschung erkannte ich mit „What Power art thou, who from below…“ ein Stück, welches Sting einst unter dem Titel „Cold Song“ einem breiteren Publikum bekannt machte.

Der heimliche Höhepunkt im V. Akt: „Your hay it is Mow’d, and your Corn is Reap’d“, vorgetragen in bester englischer Manier, als Trinklied nämlich.

Danach ließ es sich beschwingt Richtung U-Bahn schwanken. Ich bin ja immer noch ein klein wenig landkrank. Obwohl wir nur an zwei von sieben Tagen Welle hatten!

In Concert: Veronika Eberle, Aphrodite Patoulidou, Barbara Hannigan und das London Symphony Orchestra in der Elbphilharmonie

Es ist schon März und es gab noch kein berichtenswertes Konzert? Stimmt nicht ganz. Es gab zum Beispiel ein „Blind Date“, am Valentinstag ausgerechnet, das sich als barocker „Specchio Veneziano“ entpuppte. Das Pariser Ensemble Le Consort spielte Werke von Antonio Vivaldi, Giovanni Battista Reali, Marco Uccellini und Johann Sebastian Bach, und zwar mit einer Verve, die den gesamten (natürlich ausverkauften) Saal begeisterte. Das Hamburger Publikum gegen Ende eines Barockmusikabends zu dreistimmigem Gesang bewegen: Das muss man auch erst schaffen. Und im Januar war ich noch in „Slippery Slope“ im Thalia Theater, vielleicht nur „Almost a Musical“, aber mit unwiderlegbar musikalischem Schwerpunkt. Oder, anders herum: ein schlaues Stück kombiniert mit einem Ritt durch diverse Musikgenres und großartigen Sänger:innen.

Der März wird mir dagegen richtiggehend überladen vorkommen. Den Anfang machten Barbara Hannigan und das London Symphony Orchestra im großen Saal der Elbphilharmonie. Die Motive Tod, Verlust und Trauer zogen sich durch das Programm.

Da war zunächst „Contrapunctus XIX“, das letzte Stück aus der unvollendeten „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach. Mich hat die Bearbeitung für Orchester nicht sonderlich überzeugt. Daran konnte auch die Ausführung durch die Musiker des LSO nicht viel ändern.

Ganz anders erging es mir erwartungsgemäß mit „Dem Andenken eines Engels“ von Alban Berg. Ich bin wahrlich kein Berg-Fan, aber das Violinkonzert hat sich bei mir eingegraben, spätestens seit der Kombination mit „Lulu“ in der Hamburger Staatsoper. Die Kombination aus LSO, Hannigan und Veronika Eberle kann man mit Fug und Recht als Idealbesetzung für dieses Stück bezeichnen.

Die Haydn-Sinfonie hatte wohl am ehesten das Potenzial, das anwesende Publikum zu überzeugen. Während des folgenden Vivier-Stücks hatten manche Zeitgenossen in meiner unmittelbaren Umgebung jedoch Schwierigkeiten, Ernst und Ruhe zu bewahren. Zu größeren Ausfällen kam es glücklicherweise nicht. Zugegeben, so ein Werk wie „Lonely Child“ mit seinem Ausflug in phantasiesprachliche Lautmalerei und deren intensive Interpretation von Aphrodite Patoulidou muss man mögen. Man sollte aber mit Anspruchsvollerem rechnen, wenn man bei Kauf eines Konzerttickets ins Programm schaut und dabei ein Stück aus dem Jahr 1980 erspäht. Ganz sicher war ich auch nicht, ob es mir zusagen würde. Aber ich fand beides faszinierend, sowohl das Stück als auch die Sängerin.

Als Nächstes ist ein Ausflug nach Berlin dran, dann die FABRIK, dann noch zweimal die Elbphilharmonie, wieder die FABRIK und dann ist es auch schon fast April.

Internationales Sommerfestival 2022 auf Kampnagel

Sommer, Sonne, August – Sommerfestivalzeit! Es war das erste „uneingeschränkte“ Sommerfestival seit 2019, ein Umstand, den keiner der Rednerinnen und Redner bei der Eröffnung zu erwähnen ausließ. „Uneingeschränkt“, das bedeutete konkret: keine Maskenpflicht, keine Beschränkung bei den Zuschauerzahlen und ein offener Avant-Garten.

Mit einer Maskenpflicht hätte ich persönlich gut leben können; die Freiwilligenquote war trotz Corona-Sommerwelle bedauerlicherweise nicht sehr hoch.

Aber zum Programm!

Tagesprogramm
Tagesprogramm

Oona Doherty: Navy Blue

Als phantastischer und sehr berührender Einstieg entpuppte sich das Eröffnungsstück „Navy Blue“ von Oona Doherty.

Der von Doherty höchstselbst verfasste Text, der im hinteren Teil des Stücks zu Jamie xx und tänzerischer Performance vorgetragen wurde, hätte mich für sich genommen zwar nicht überzeugt. Als Soundtrack funktionierte er aber hervorragend.

Kid Koala: The Storyville Mosquito

Kid Koalas „Nufonia Must Fall“ hat maßgeblich dazu beigetragen, dass ich mich seit 2014 immer wieder und mit Begeisterung in die Sommerfestival-Programme stürze. Umso größer war meine Freude, als ich auf der diesjährigen Liste erneut ein detailverliebtes Puppenstück aus der Feder von Eric San vorfand.

Die Story von „The Storyville Mosquito“ ist schnell erzählt, da Nebensache: Mosquito kommt in die große Stadt, träumt von einem Durchbruch als Musiker, verliebt sich, wird von einem Widersacher gemobbt und enttäuscht, findet aber letztlich doch noch sein Glück. Es ist die überbordend kreative, liebevolle Umsetzung als live gespielter beziehungsweise aufgeführter Film, die die Hauptrolle spielt. Fast alle dazu erforderlichen Miniatursets waren für das Publikum während der Aufführung gut einsehbar, wodurch auch das Entstehen der „Special Effects“ transparent wurde. Dazu noch eine Handvoll Hamburg-Bezüge und – Eichhörnchen! Ich war wieder sehr verliebt.

Das anschließende Konzert in der kmh begann ebenfalls verheißungsvoll, wenn auch leicht verspätet. Allerdings empfand ich die Darbietungen von Kid Koalas Special Guest, der US-amerikanischen Musikerin Lealani, bei wiederholtem Antritt als zunehmend anstrengend. Schließlich fiel der Sauerstoffgehalt der zum Schneiden dicken Luft in der Halle unter mein kritisches Level und ich musste die Segel streichen. So verpasste ich leider die Übernahme des DJ-Pults durch Jacques Palminger. Josh Dolgin alias Socalled war bei dem als „Gipfeltreffen von drei Legenden des musikalischen Entertainments“ angekündigten Event erst gar nicht angetreten. Coronabedingt, wie ich später erfuhr.

Brandt Brauer Frick

Anders erging es mir beim Auftritt von Brandt Brauer Frick ein paar Tage später an gleicher Stelle.

Brandt Brauer Frick
Brandt Brauer Frick

Seit der ersten Begegnung 2014 im Boiler Room waren mir die drei Herren in guter Erinnerung geblieben. Vollkommen zu Recht. Das war klasse!

Socalled & Friends: TIME – The 4th Season feat. Miwazow

Im Gegensatz zu Falk bin ich der Meinung, dass das Musical um Bär, Tina und Co. mit der vierten Season gut und gerne abgeschlossen sein (und bleiben) darf. Wenn man die Story eines Puppenmusicals ohne den Abendzettel nicht mehr versteht, dann – spätestens! – sollte man es gut sein lassen. Andererseits: die Musik! Großartig, so wie jedes Mal („Na wie geiht di dat“-Ohrwurm summend ab).

Apropos, nebenbei konnte ich aus erster Hand in Erfahrung bringen, dass das unvermeidlicherweise unter den Socalled-„Friends“ befindliche Kaiser Quartett im Februar 2023 ein neues Album herausbringen und demnächst im Kleinen Saal der Elbphilharmonie auftreten wird.

But I’m awake

Die mit „Identity, Vulnerability and Empowerment“ untertitelte Fotoausstellung in der Vorhalle fand in Kooperation mit den Deichtorhallen und der Phototriennale statt.

But I'm awake
But I’m awake

Zu mir hat kein einziges der ausgestellten Bilder gesprochen. Mir fehlt da schlicht der Zugang.

Gus van Sant: Trouble

Ein Musical über Andy Warhol von einem bekannten Filmregisseur ohne jegliche Theatererfahrung – what could possibly go wrong?

Eine ganze Menge, wie sich herausstellte. Ich mochte zwar das Ensemble – für sich genommen entzückend in seiner Naivität -, den Soundtrack und die Ausstattung, aber damit ist ein dermaßen flaches Stück nicht zu retten. Wo war da der „Trouble“? Erschreckend eindimensional und das bei dem Stoff! Schade.

Cuqui Jerez: Magical and Elastic

Keine Handlung, sondern eine Dekonstruktion derselben mit Musicalfragmenten: So habe ich „Magical and Elastic“ verstanden. Ich fand es mindestens amüsant. Die Angelegenheit hatte nur leider absurde Längen und je eine Laber- und eine Kicherfraktion im Publikum waren dabei nicht hilfreich. Es ist lange her, dass ich so viele Leute mittendrin ein Stück habe verlassen sehen. Gefühlt noch knapp die Hälfte klatschte nach über zwei Stunden mit nahezu verzweifelter Hartnäckigkeit das Ende herbei. Das hätte toll sein können. Klassischer Fall von verschenkt.

Boy Division im Migrantpolitan
Boy Division im Migrantpolitan
Solicasino
Solicasino
Solicasino
Solicasino

Wie schon im letzten Jahr waren JASCHA&FRANZ wieder für die Gestaltung des Avant-Garten verantwortlich.

Bubbles!
Bubbles!

Letztes Jahr war ich nicht begeistert. In diesem Jahr fand ich den Garten:

Sehr O.K.
Sehr O.K.

Wenn auch ein wenig verwaist an manchen Abenden. Außer, wenn die Kopfhörer-Party „RADIO ATOPIA“ von JAJAJA auf dem Terminplan stand. Nur gab es leider nicht genügend Kopfhörer. Ich bin bei jedem einzelnen Versuch leer aus- und schließlich nicht mehr hingegangen. Aber irgendwas ist immer und diese Marginalie ist irgendwo zwischen „Abzug in der B-Note“ und „Jammern auf hohem Niveau“ abzulegen.

Sommerfestival, my love!

In Concert: Mirga Gražinytė-Tyla und das City of Birmingham Symphony Orchestra in der Elbphilharmonie

Das ist ja immer so eine Sache mit konzertant aufgeführten Opern. Eher schwierig, so finde ich, wenn man das Stück nicht schon kennt. Dazu kommt die besondere Herausforderung der Akustik des Großen Saals der Elbphilharmonie, in der viele Sänger:innen es schwer haben, sich gegenüber einem Orchester Gehör zu verschaffen. Schon aus diesem Grunde hatte ich mich für einen Platz vor der Bühne entschlossen, nicht dahinter, auch nicht daneben. Meiner Erfahrung zufolge denken die meisten Sänger:innen nicht Sportarena, sondern Schuhkarton. Das Problem dabei: Wo sie nicht hinsingen, sind sie kaum hörbar. Es gibt löbliche Ausnahmen, Barbara Hannigan beispielsweise, die aber die Regel bestätigen. Bis heute.

Es passt halt rein räumlich auch nicht immer. Mit dem Orchester und dem Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor war die Bühne bereits gut gefüllt. Da blieb nur wenig Platz für die Solisten. Wenn man dann – der Atmosphäre wegen – noch wenigstens ein bisschen Szenerie mit einschließen will, schränkt das den Spielraum zusätzlich ein.

So blieben mir Libretto und Story zwar weitgehend ein Rätsel, aber musikalisch ist „Das schlaue Füchslein“ definitiv innerhalb meines Beuteschemas. Ich vergebe außerdem ein Extra-Sternchen für die szenische Umsetzung unter den eingeschränkten Bedingungen. Unter den Darsteller:innen besonders gut gefallen haben mir Elena Tsallagova als Füchsin, William Thomas als Dachs, Pfarrer und Harašta, der Frosch (Ben Fletcher), die Grille (Joshua Webb) und der Heuschreck (Christopher Bergs).

Meine Hauptmotivation jedoch war, das CBSO und Mirga Gražinytė-Tyla im dritten Anlauf endlich einmal live zu erleben. Und das lohnt sich uneingeschränkt.

Ein klein wenig bedauert habe ich, nicht etwas mehr Geld ausgegeben zu haben für einen Platz näher am Geschehen. Ich merke es mir fürs nächste Mal.