Herbstbuntes

Im Sommer kam die Trendwende, aber bis zum Herbst hat es gedauert, bis ich endlich sagen konnte: Es geht mir (wieder) gut!

Weil das keine Selbstverständlichkeit ist und ich mit dem Phänomen bedauerlicherweise alles andere als alleine bin, wird es hier und jetzt ausnahmsweise konkret: Wenn ihr „in einem gewissen Alter“ seid, entweder schleichend oder scheinbar plötzlich gesundheitlich so einiges den Bach runter zu gehen scheint und bei geneigten Zeitgenössinnen als Zugabe die Migräne massiv eskaliert: Sucht euch eine Hausärztin oder Gynäkologin (m/w/d), die sich mit Wechseljahresbeschwerden und deren Behandlung auskennt. Und zwar wirklich auskennt, im Sinne von: Wenn eine Strategie nicht funktioniert, wird nicht mit den Schultern gezuckt, sondern eine andere ausprobiert. Das ist nicht so einfach, ich weiß. Aber es kann den Unterschied zwischen „körperlich/mental wieder fit“ und „lebensunfroh und (nahezu) arbeitsunfähig“ ausmachen.

Soweit dazu.

September

Der September begann mit einem Werkstattkonzert in der Klangmanufaktur, welches bei mir ohne jeden Nachhall verpuffte. Nicht wegen schlechter Tagesform, das Trio bestehend aus Violine, Cello und Flügel hat mich einfach nicht berührt. Kann passieren.

Zur Langen Nacht der Literatur Hamburg hatte ich mir eine Lesung von Burghart Klaußner in der Freien Akademie der Künste Hamburg ausgesucht. Zum einen, weil ich Burghart Klaußner mag und zum anderen, weil ich noch nie im Gebäude der Freien Akadamie der Künste Hamburg war. Klaußner las aus „Ich und die anderen“, den Erinnerungen des Literaturkritikers, Journalisten (FAZ, DIE ZEIT) und ehemaligen Akademie-Präsidenten Ulrich Greiner. Außerdem plauderten die beiden über Greiners Karriere, das Schreiben – was ich bis dahin nicht wusste: Klaußner hat selbst bereits ein Buch veröffentlicht und versucht sich zurzeit an seinen eigenen Memoiren – sowie über dies und das. Die ehemalige Kollegin, die ich zufällig vor Ort antraf, fand, dass sei doch ein recht eitles Geplauder zweier alter, weißer Männer gewesen. Ganz unrecht hatte sie nicht, vor allem Greiner gab sich auf tendenziell unsympathische Art und Weise selbstgefällig (das Wort „standesbewusst“ kam mir in den Sinn). Allein das Buch „Ich und die anderen“ zu betiteln ist ja für sich genommen schon erhellend. Ich fühlte mich trotzdem gut unterhalten. Schon weil Burghart Klaußner einfach ein phantastischer Vorleser ist.

Dem Inhalt und Format entsprechend völlig anders, aber ebenfalls hervorragend war der Vortrag von Joachim Król im Rahmen des Harbour Front Literaturfestival: Unter dem Titel „Momentum – Ein Roger Willemsen Abend“ präsentierte er im Kleinen Saal der Elbphilharmonie die im gleichnamigen Buch erschienenen kurzen und sehr kurzen Texte des 2016 verstorbenen Publizisten, Moderators und Filmproduzenten, der in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Die mit den Textpassagen eng verwobenen musikalischen Parts besorgten – auch das angemessen hochklassig – Franziska Hölscher (Violine) und Martin Klett (Klavier). Ein gelungenes Gesamtkunstwerk! Wie ich hörte, soll es in Zukunft weitere Termine geben.

Oktober

Semperoper
Semperoper

Die Idee, eines Tages die Semperoper zu besuchen, ist schon viele Jahre alt. Mitte Oktober war es endlich soweit: Mit Schwestern, Schwager und Mutter ging es in die Neuinszenierung des „Falstaff“, der letzten Oper von Giuseppe Verdi. Regisseur Damiano Michieletto hatte den Stoff in die jüngere Vergangenheit transferiert und aus der Titelfigur einen abgehalfterten Rockstar gemacht.

Nicola Alaimo als Falstaff warf sich vollständig in die Situation (wie die geschätzte Frau Novemberregen es ausdrücken würde), was ganz wesentlich zum Gelingen dieser Übung beitrug. Musikalisch überzeugte die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Daniele Gatti. Dieser, so erfuhren wir im Nachgespräch mit Nicole Chirka (Mrs. Meg Page) und Simeon Esper (Bardolfo), hatte an der Ausgestaltung der Inszenierung keinen unwesentlichen Anteil. Wie Esper, selbst US-Amerikaner, mit einiger Belustigung herausstellte war neben der musikalischen Leitung und der Regie auch die Gestaltung des Bühnenbilds und des Lichts in italienischer Hand, zudem waren fünf der zehn Rollen mit Italienerinnen und Italienern besetzt. Italienische Verhältnisse in Sachsen also – der Produktion hat es jedenfalls gut getan. Mit den meisten zeitgenössischen Operninszenierungen, die ich bisher sah, hatte ich Probleme. Weil es in diesen oft zu drastischen Diskrepanzen zwischen Libretto/Musik und dem Narrativ kommt, welches die jeweilige Inszenierung zu vermitteln sucht. Bei diesem „Falstaff“ hat niemand auch nur versucht, gegen das Stück zu arbeiten. Von dem Ergebnis war sogar der bis dato wenig opernaffine Schwager angetan.

Immer noch schwer geflasht bin ich vom Auftritt des Vokalensembles Tenebrae unter der Leitung von Nigel Short im Großen Saal der Elbphilharmonie, eine von vier Veranstaltungen des Schwerpunkts „Arvo Pärt 90“ (gerne hätte ich sie alle besucht, aber das passte zeitlich leider nicht). Für mich überraschend waren es dann aber gar nicht so sehr die Pärt-Stücke, sondern die Interpretationen der Werke von Sir John Taverner und Eric Whitcare, die mich nachhaltig beeindruckten. Das große Finale bildete „Spem in alium“ von Thomas Tallis mit der Prelude „Nulla est finis“ von Unsuk Chin und nicht nur zu dieser Gelegenheit bespielten Tenebrae auch den Raum: Der Chor teilte sich in verschiedene Gruppen auf, von denen einige sich im Zuschauerraum platzierten. In vielen Momenten des Abends hätte ich mir die Atmosphäre und Akustik einer Kirche gewünscht. Andererseits betonte der vielfach als trocken gescholtene Große Elphi-Saal die Präzision des Vortrags. Da kann halt niemand ungestraft schummeln. Oder, wie Mengguang Huang es auf „bachtrack“ formulierte: „When Tallis’ forty-part monument finally rose from this sonic mist, it felt immense yet transparent within the crystalline acoustics of the Elbphilharmonie – an experience with rare structural clarity, unattainable in the resonant haze of normal cathedrals.“

Zum Abschluss des Monats hatte ich ein weiteres „Blind Date“ im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, das sich als argentinischer Tango mit dem Sónico Tango Orchestra entpuppte. Dargeboten wurden Kompositionen und Arrangements von Eduardo Rovira und Astor Piazzolla, in der ersten Hälfte zu siebt und in der zweiten als Oktet mit zwei Bandoneon-Spielern. Das Ensemble ist in Brüssel beheimatet, wobei unter den Mitgliedern nur ein Belgier ist (Ivo De Greef am Flügel). Der Rest stammt aus den USA, Spanien, Frankreich und – zumindest ursprünglich – Argentinien.

Und sonst so

Ich war außerdem zum ersten Mal in der Sammlung Falckenberg (zum Tag des offenen Denkmals) und es wird bestimmt nicht das letzte Mal gewesen sein.

Dann staunte ich über Anders Zorn, dem zurzeit eine große Sonderausstellung in der Hamburger Kunsthalle gewidmet ist. Den Bericht darüber muss ich nicht selbst schreiben, sondern kann an Herrn Buddenbohm verweisen, dessen Anmerkungen ich mich voll und ganz anschließe. Mit der Ergänzung, dass nicht nur die Gemälde, sondern besonders die in seinem Beitrag nicht abgebildeten Radierungen Zorns eine Klasse für sich darstellen.

Anders Zorn, Die Kunstsammlerin Isabella Stewart Gardner (1894)
Die Kunstsammlerin Isabella Stewart Gardner (1894)
Anders Zorn, Junge rauchende Frau (ca. 1892)
Junge rauchende Frau (ca. 1892)

Das Kultur- und Musikangebot Dresdens muss ich unbedingt vertiefen und mir bei nächster Gelegenheit vor allem den Kulturpalast näher anschauen. Dieser beherbergt neben der Dresdner Philharmonie die Zentralbibliothek der Sächsischen Bibliotheken Dresden, das Kabaret DIE HERKULESKEULE, das COSMO Wissenschaftsforum und das ZfBK – Zentrum für Baukultur Sachsen. Eine interessante Mischung.

Als Herausforderung entpuppte sich indes die Navigation durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Wir besuchten die königlichen Paraderäume Augusts des Starken, das Historische und das Neue Grüne Gewölbe (Residenzschloss) sowie den Mathematisch-Physikalischen Salon (Zwinger). Allerdings haben Zwinger und Residenzschloss unterschiedliche Öffnungszeiten und auf der Webseite wird man diverse Male im Kreis geführt, bevor sich einem erschließt, was wo angeboten wird und welches Ticketmodell zu den eigenen Wünschen passt. Hilfreicher war da ein Faltblatt mit Übersichtskarte, welches ich bei Dresden Information am Hauptbahnhof eingesteckt hatte.

Dresdner Zwinger
Dresdner Zwinger
Automat im Mathematisch-Physikalischen Salon
Automat im Mathematisch-Physikalischen Salon

Merke: Für Manches ist Print immer noch unschlagbar!

Internationales Sommerfestival 2023 auf Kampnagel

Die diesjährige Ausbeute war eindeutig zu mager: Zu ganzen vier Veranstaltungen habe ich es während des Internationalen Sommerfestivals 2023 auf Kampnagel geschafft. Immerhin, drei davon verbuche ich als Highlights.

(La) Horde/Ballet national de Marseille: Age of Content

Das Eröffnungsstück  von (La)Horde und dem Ballet national de Marseille gehörte – für mich überraschenderweise – leider nicht dazu.

Zum einen verstand ich die Story nicht, zum anderen war das Werk schlicht gute 15 bis 20 Minuten zu lang. „Marry me in Bassiani“ hatte mir seinerzeit ganz gut gefallen, „Age of Content“ hat mich dagegen gar nicht überzeugt. Schade.

Walid Raad: Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter

Das war ein ziemlicher Ritt durch die Hamburger Kunsthalle, denn dort spann Walid Raad entlang von im Gebäude des historischen Gründungsbaus verstreuten Objekten aus Fiktion und Historie (s)eine Geschichte. Zunächst schienen es nur Fragmente zu sein, die da teils im atemberaubenden Tempo und in schnellen Wechseln vorgetragen wurden. Doch nach und nach verdichteten sich die Bruchstücke, einem Mosaik nicht unähnlich, zu einem großen, verwirrenden Ganzen – letztlich, so eine der Botschaften, hängt doch alles mit allem zusammen, wenn auch bisweilen auf recht absonderliche Art und Weise.

Das Tempo, zudem in englischer Sprache, mag nicht für jeden vor Ort ideal gewesen sein. Die allermeisten Gesichter – oder so kam es mir jedenfalls vor – spiegelten aber mein eigenes Empfinden wieder: aus anfänglicher Skepsis wuchs Faszination bis hin zur Begeisterung. „Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter“ ist übrigens noch bis einschließlich 12. November 2023 per Audioguide oder in weiteren weiteren Live-Terminen zu sehen, zu hören und zu erleben.

Nesterval: Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg

Unter Unterhaltung fällt „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“ nicht. In dem Stück, welches die Verfolgung Homosexueller während der Nazizeit in Hamburg  nachzeichnet, wird das Publikum nicht geschont. Man kann es Pech nennen oder auch Glück, dass ich von Anfang bis zum Ende durchgehend der unsympathischsten (und mutmaßlich auch mit weitem Abstand sadistischsten) Figur gefolgt bin. Auf diese Weise bekam ich das volle Programm geboten, inklusive einer drastischen Folterszene. Das war herausfordernd. Gelinde gesagt. Nicht umsonst wurde zu Beginn der Vorstellung auf die Möglichkeit verwiesen, sich jederzeit herausziehen zu können und ich habe nicht nur nach dieser einen Szene ernsthaft darüber nachdenken müssen. Dabei hatte ich nicht einmal alles gesehen. Theoretisch konnte man im ehemaligen Kakaospeicher Baakenhöft über 180 Szenen als Zuschauer in Begleitung und aus der Perspektive der Charaktere erleben. In drei Stunden Spielzeit schafft man davon aber nur einen Bruchteil. Aus meiner Sicht hat das mir schon aus „Sex & Drugs & Budd’n’brooks“ bekannte Format des begleiteten Szenenwechsels auch bei diesem schweren Thema gut funktioniert – vielleicht ein wenig zu gut, ich habe lange gebraucht, bis ich den Abend einigermaßen verarbeitet hatte. Anderen ging es anders, an einer Stelle fiel gar das Wort „Holocaust-Kitsch“. Zugegeben, das Schlussbild („Niemals vergessen“) war vielleicht ein klein wenig drüber, aber meinen Gesamteindruck konnte das nicht schmälern. Ich bleibe dabei: gerne jederzeit wieder Nesterval. Thema egal.

Graindelavoix: Rolling Stone

Das Konzert fand am letzten Festivaltag in Kooperation mit dem Elbphilharmonie Sommer im Großen Elphi-Saal statt.

Ein bisschen musste ich mich leider ärgern: Im ersten Teil des Konzerts wurde ein Film auf eine weiße Leinwand projiziert, die vermutlich nicht ganz zufällig einem Leintuch glich; geht es doch in der „Erdbebenmesse“ von Atoine Brumel um jenes Erdbeben, welches der vom Grab Jesu wegrollende Stein verursacht haben soll. Auch in dem gezeigten Dokumentarfilm von 1967 wurde diese Erzählung aufgegriffen. Allein, gesehen habe ich so gut wie nichts davon: Auf den Seitenplätzen hatte man die „Leinwand“ nämlich im Querschnitt vor der Nase. Das hätte ich gern vorher gewusst. Aber letztlich war ich wegen der Musik da, nicht wegen des Drumherums, und an dem musikalische Part gab es wenig zu kritisieren. Beeindruckend.

Zum Festival Avant-Garten kann ich mich nicht verhalten, ich war nämlich gar nicht dort (außer am Eröffnungstag). Das kommt davon, wenn man die Veranstaltungen in die gesamte Stadt verstreut! So schön, spannend und interessant das im Einzelfall ist: Das richtig echte Festival-Feeling kommt dadurch eindeutig zu kurz.