Freizeitstreß

Ich weiß nicht, ob es allen so geht, aber alle Jahre wieder in der Zeit von Oktober bis Dezember formiert sich in meinem Kalender diese eine Woche, in der man jeden Abend mindestens zweimal mit Konzerten oder anderen Kulturhighlights belegen könnte. Und da jedes Mal Unwiderstehlichkeiten dabei sind, entwickelt sich daraus regelmäßig eine Großkampfstrecke.

Dieser Tage ist es wieder so weit. Gewissermaßen als Vorbote spielte am Donnerstag vorvergangener Woche Francesco Tristano im kleinen Saal der Elbphilharmonie, am Montag folgte die National Theatre-Produktion von „A Mid Summer Night’s Dream“ im Savoy, am Mittwoch Ludovico Einaudi im Großen Saal und am Donnerstag das „Blind Date“ im Kleinen Saal wieder der Elbphilharmonie, gestern Abend standen Martin Kohlstedt und der Leipziger GewandhausChor in der Laeiszhalle auf der Bühne und morgen geht es nahtlos weiter mit meinem kleinen ungeraden Philharmoniker-Montagsabo. Dann ist dreieinhalb Wochen Konzertpause. Das aber auch nur, weil ich mein Max Richter-Ticket aus dienstreisetechnischen Gründen in gute Hände abgeben habe müssen.

Man verzeihe mir also, dass ich vorübergehend in den Schnelldurchlaufmodus umschalte.

Francesco Tristanos Debut in der Elbphilharmonie bestand aus der Präsentation seines aktuellen Albums „Tokyo Stories“. Anders als die „Piano Circle Songs“, die ich 2017 in der Royal Festival Hall hörte, sind die „Tokyo Stories“ mehrheitlich nicht Piano solo, sondern Piano plus Rhythmisch-Elektronisches besetzt, wobei letzteres mehr oder weniger vom Band (= Computer) lief. Man könnte sagen: Tristano spielte live auf dem Konzertflügel gegen sein elektronisches Ich. Das muss man so überzeugend wie geschehen auch erst einmal hinlegen. Symptomatisch nannte das zum Eintritt gereichte Infoblättchen – ich möchte es nicht Programm nennen, aber immerhin, es gab eines – den Track „Electric Mirror“ und ja, der ist definitiv symptomatisch für die Musik des Francesco Tristano, wenn auch nicht unbedingt für die „Tokyo Stories“. Das ist viel eher „The Third Bridge of Nakameguro“; es ist wohl kein Zufall, dass der Song auch für den Albumtrailer ausgewählt wurde.

Ich mochte die „Tokyo Stories“, die hektischen wie die kontemplativen, und es dauerte es eine Weile und mehrere vertiefende Durchgänge bei Spotify, bis ich herausfand, was mich an ihnen stört: Es sind die Sounds. Vermutlich passen sie ganz hervorragend zur beschriebenen Stadt, das kann ich mir sehr gut vorstellen, sogar ohne jemals dort gewesen zu sein. Aber sie passen nicht ganz in mein Ohr. Wobei, zugegeben, als Nils Frahm-Aficionado bin ich diesbezüglich extrem verwöhnt. Oder voreingenommen, je nach Blickwinkel.

Übrigens ist das Konzert Teil von ProArte X, wurde von Mischa Kreiskott (NDR Kultur Neo) anmoderiert und falls diese Reihe weiterlaufen sollte, werde ich mich wohl um ein Abo bemühen müssen.

Die Veranstaltung mit Ludovico Einaudi ein paar Tage später fiel gleich ein paar Nummern größer aus: Nicht nur, dass es ein Zusatzkonzert gab, beide Termine waren restlos ausverkauft und an beiden Abenden standen deshalb je eine gute Handvoll hoffnungsvoller Ticketsuchender frierend vorm Eingang. Die meisten waren mit klassischen Papier- bzw. Pappschildern bewaffnet, aber ich sah auch jemanden, der ein Tablet nutzte. Gar nicht so dumm, weil hintergrundbeleuchtet! Eine besondere Stimmung war das im Großen Saal: Das Publikum bestand mehrheitlich aus andächtig lauschenden Einaudi-Verehrern, darunter viele Elphi-Erstis und nicht wenige davon in Abendgarderobe. Das gelegentlich vernehmbare Hustenbonbonpapierknistern und die mindestens zwei aus Hosentaschen oder von Sitzen polternd abgestürzten Mobiltelefone finde ich unter solchen Umständen verzeihlich, denn da saßen keine gelangweilten Elbphilharmonie-Touristen, sondern Konzertsaalneulinge und doch, diesen Unterschied kann man hören und spüren. Apropos, wir können alle miteinander froh sein, dass die Sitze im Großen Saal nahezu geräuschlos hochklappen und auch die Türen im Flüstermodus bedienbar sind. Das ist in der Laeiszhalle leider ganz anders und entsprechend wirkt es sich auf die Nebengeräuschkulisse aus. Insbesondere, wenn es sich um ein Konzert mit mehrheitlich unkundigem Publikum und niedrigem Lautstärkepegel handelt, in das Zuspätkommer zu allem Übel dann auch noch unerklärlicherweise mitten im Stück eingelassen werden.

Aber zurück zu Ludovico Einaudi. Musikalisch gesehen bewege ich mich inzwischen in anderen Gewässern, aber vieles von dem, was mir heute selbstverständlich ist, hat mit ihm seinen Anfang genommen. Das habe ich nicht vergessen und ich kann es auch immer noch hören. Nichtsdestotrotz werde ich dieses Kapitel wohl mit dem Abend in der Elbphilharmonie abschließen.

Was keinesfalls für die Reihe „Blind Date“ im Kleinen Saal gilt! Nur ein paar Notenständer waren zu sehen, bevor die Überraschungsgäste des Abends vor dem Publikum erschienen. Pünktlich um kurz nach halb acht traten nicht weniger als acht Posaunisten aus der Tür und begannen ihren Auftritt höchst  effektvoll mit der „Olympic Fanfare“ von John Williams. Trombone Unit Hannover nennen sich die Musiker, die hauptamtlich in Orchestern wie den Bamberger und Hamburger Symphonikern, dem SWR Symphonieorchester, dem Orchester der Staatsoper Hannover, der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken oder dem Berliner Konzerthausorchester unterwegs sind.

Ich würde mich nun nicht gerade als blechbläseraffin bezeichnen, aber dieses Ensemble hat mich überzeugt. Meinen beiden Lieblingsstücken aus dem präsentierten Programm: die Improvisation über gregorianische Gesänge von Hildegard von Bingen und „Osteoblast“ von Derek Bourgeois.

Bleibt zum vorläufigen Schluss der gestrige Auftritt von Martin Kohlstedt und dem GewandhausChor in der Laeiszhalle, zu dem mir bis zur Stunde immer noch kein angemessener Wortbeitrag eingefallen ist, der über den Satz „Was für ein Geschenk!“ hinausgeht.

Aber vielleicht kommt das ja noch. Dann hole ich es nach.

Theater, Theater: „König Lear“ im Deutschen Schauspielhaus

Der Zufall wollte, dass ich zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen eine Inszenierung des „Lear“ sah: Zuerst eine Produktion des Chichester Festival Theatre mit Ian McKellen in der Titelrolle (gezeigt im Savoy im Rahmen der „English Theatre“-Reihe) und gestern die Version von Karin Beier im Deutschen Schauspielhaus.

Fangen wir mit der Nummer zwei an. In den etwas über drei Stunden der Dauer des Stücks fühlte ich mich die meiste Zeit gut unterhalten. Ich mochte die Bühne, die Kostüme, den Umgang mit und Einsatz von Geräuschen, Tönen und Musik (insbesondere das Klavierspiel) und das Ensemble, allen voran Jan-Peter Kampwirth, Edgar Selge und Lina Beckmann. Ich mochte, dass das Stück als solches erkennbar blieb. Ich mochte auch den offensiven und offensichtlichen Geschlechtertausch bei der Besetzung der Schwestern Goneril und Regan und der Rolle des Edmund. Und obgleich ich kein Fan von schreiender und tobender Nacktheit bin, so ist der Einsatz dieser Elemente doch absolut vertretbar, wenn in dem zu inszenierenden Stück zwei Wahnsinnige und ein Narr darzustellen sind. Was ich überhaupt nicht mochte: die Überfrachtung des Stücks mit aktuellen Bezügen. Besonders hervorstechend war dabei der arme königstreue Kent als blondperückiger, pöbelnder und obendrein auch noch sächselnder Wutbürger. Schon das Klischee wäre mir zu dumm gewesen, aber wie passt das zur Figur, zum Stück? Gar nicht. Es tut nicht Not, den „Lear“ in dieser Form aufstocken zu wollen. Die Story ist hochaktuell, um nicht zu sagen zeitlos. Es ist nicht das erste Mal, dass ich nach Genuss einer zeitgenössischen Theater- bzw. Operninszenierung zu dem Schluss komme: Weniger wäre sehr viel mehr gewesen.

Was mich direkt zur britischen Version bringt. „Aktualisiert“ waren hier lediglich Bühnenbild, Ausstattung und Kostüme. Alles darüber hinaus wurde dem Spiel überlassen, in dessen Mittelpunkt der geistige und körperliche Verfall des Lear und dessen Interpretation durch Ian McKellen stand. Auch in dieser Produktion waren Frauen in Männerrollen zu sehen, was allerdings nicht automatisch zu der Frage „was will der Regisseur uns damit sagen“ führt. Dass Besetzungen unabhängig von Geschlecht oder Hautfarbe vorgenommen werden, ist jenseits des Kanals offenbar völlige Normalität.

Ich will nicht behaupten, der originalgetreuere „Lear“ wäre auch automatisch der bessere gewesen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Stück sind kaum vergleichbar. Was ich aber am „English Theatre“ so sehr genieße: Ich kann völlig unvorbereitet in eine Aufführung gehen und mir eine Geschichte erzählen lassen. Zum Beispiel eben die des Königs, der eines Tages beschloss, noch vor seinem Tod die Königswürde und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Und bekomme dabei die Chance, neben der eigentlichen Handlung ohne Eingriff in den Text und überfrachtende Symbolik zu begreifen, wie universal und übertragbar diese Geschichte ist. Bei „König Lear“ von Karin Beier wäre das undenkbar gewesen. Hätte ich Story und Originalfiguren nicht schon gekannt und dadurch den roten Faden einigermaßen im Blick behalten, ich hätte vermutlich zur Pause aufgegeben.

Was ich gern hätte: Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Theaterwelten. Ob es das wohl irgendwo gibt?

Platzhalter

Worüber ich in den letzten Tagen mangels Zeit, Ruhe und Konzentration nicht gebloggt habe:

Gestern Abend hätt‘ ich können, aber da habe ich diverse Trockenfrüchte in Alkohol eingelegt. Und heute Plätzchen gebacken.

Muss an der Jahreszeit liegen.


*) des laufenden Jahres