„Otello“ in der Staatsoper Hamburg

In der Staatsoper Hamburg war ich nun schon ein paar Mal, aber erst als ich im vergangenen Herbst die Liveübertragung der Spielzeiteröffnung 2016/17 am Jungfernstieg sah, fiel mir auf, dass ich dort zwar Ballettvorführungen und Konzerte, aber noch nie eine Oper besucht hatte. In über 11 Jahren in Hamburg nicht. Höchste Zeit, das nachzuholen.

Warum es nun ausgerechnet der „Otello“ wurde, tja. Mag sein, dass die mannshohe Plakatierung im U-Bahn-Durchgang zwischen Rathausmarkt und Jungfernstieg eine Rolle spielte (Print wirkt!). Kann aber auch am Datum gelegen haben.

Wie dem auch sei, ich fand kurzfristig noch einen freien Platz mit halbwegs brauchbarem Blick auf das Bühnengeschehen für äußerst erschwingliche 12 Euro, konsultierte den zuvor entstaubten Opernführer und informierte mich grob über die Inszenierung: zeitgenössisch offenbar, von Buhrufen aus dem Publikum war zu lesen; das versprach Kontroverse.

Ob es in Calixto Bieitos Sinne war, dass sich in meinem Kopf angesichts der italienisch singenden Anzugträger auf der Bühne schon ab der ersten Szene Mafia-Assoziationen festsetzten – ich bin mir da nicht ganz sicher.

Die vorgetragene Version der Geschichte um Intrigen, Eifersucht, Gewalt und Mord erinnerte mich jedenfalls an die klassischen Macho-Machtspiel-Szenarien innerhalb eines Clans. In einer Hafenstadt, des das Bühnenbild beherrschenden orangefarbenen Krans wegen, sei es nun auf Zypern, wie das Libretto es vorgibt, oder sonst irgendwo auf der Welt. Ein testosterongesteuertes Wetteifern, in dem Frauen nur als devote Opfer und Status- bzw. Sexobjekte vorkommen. Selbst die Liebesszenen atmen in dieser Inszenierung Unterdrückung und Missbrauch und das ist soweit stimmig.

Was nicht ganz passte, war der Chor. Ein Heer von abgerissenen, schicksalsergebenen und sich um die Champagnerspritzereien der Herrschenden balgender Gestalten, die Textstellen wie

Mentre all’aura vola,
vola lieta la canzon,
l’agile mandòla
ne accompagna il suon.

Zur Mandola klingen
Soll der Freude Lied,
Das auf leichten Schwingen
Durch die Lüfte zieht.

singen, während Desdemona mit einem Blumenstrauß im Arm sich unter ihnen bewegt – das lässt sich meines Erachtens höchstens mittels Ironie in Einklang bringen.

Vermutlich habe ich also auch hier wieder nicht in Gänze begriffen, was der Regisseur dem Publikum mit seiner Inszenierung sagen wollte. Es hat mir trotzdem sehr gut gefallen.

Die musikalischen Gewinner des Abends waren Claudio Sgura als Jago und Svetlana Aksenova als Desdemona – großartig. Und überhaupt, Verdi! Nicht kaputtzukriegen. Schlimmstenfalls hätte das auch mit geschlossenen Augen noch funktioniert.

Apropos, ich merke mir fürs Ohr: Die Staatsoper-Akustik funktioniert sehr gut auch in der Holzklasse auf den günstigen Plätzen (und ist gnadenlos zu klappernden Streichern).

Den dramatischen Abend mit einem doppelten Grappa ausklingen zu lassen, erschien mir im Anschluss nur recht und billig. Wobei das wiederum ganz bestimmt auch dem Datum geschuldet war. Und der anderen Oper da, jenseits des großen Teichs.

Salute.

Das Jeansproblem

Onlineversandhandel kann eine praktische Sache sein. Man hat die größtmögliche Auswahl, bestellt unabhängig von Ladenöffnungszeiten bequem von zu Hause aus und bekommt, wenn alles glatt läuft, das Gewünschte binnen weniger Tage ins Haus geliefert. Ich bestelle viel und gerne online und möchte diesen Einkaufsweg nicht missen.

Manche Dinge erscheinen mir aber schlicht zu banal, um deswegen einen Bringdienst zu bemühen. Oder ich benötige sie jetzt und sofort und habe daher keine Muße, Lieferfristen abzuwarten. Kleidung und Schuhe online zu kaufen, empfinde ich gar als unpraktisch und umständlich. Für die allermeisten Dinge mache ich mich also weiterhin auf den Weg in den Einzelhandel, um dieser Tage vermehrt enttäuscht zu werden.

Ein Beispiel.

Über Weihnachten hatte ich die Gel-Wärmflasche meiner Mutter in der Mikrowelle zum Platzen gebracht. In der Benutzung dieses Geräts ungeübt, hatte ich versehentlich eine zu hohe Wattzahl eingestellt. Es galt, Ersatz zu besorgen. Das erschien mir nicht als sonderlich herausfordernd. Ich begab mich also zunächst auf die Barmbeker Einkaufsmeile und danach in die Hamburger Innenstadt. Zwei Drogeriemärkte, ein Kaufhaus und zwei Apotheken später gab ich das Vorhaben auf und bestellte online. Wir reden hier von Hamburg, wohlgemerkt. Nicht von Hintertupfingen. Sehr erstaunlich.

Noch erstaunlicher: Eine der besuchten Apotheken gehört zu einer Kette, der auch ein Webshop angegliedert ist. In diesem war das von mir gewünschte Produkt als lieferbar gelistet, vor Ort war die Wärmflasche allerdings nicht am Lager. „In Ihrem Webshop haben Sie so etwas!“, erwähnte ich noch bei der Nachfrage. Das sei gut möglich, erhielt ich zur Antwort, aber man könne eben nicht das gesamte Sortiment in der Filiale bevorraten. Soweit absolut verständlich. Nur bot man mir weder an, die Ware für mich zu besorgen noch wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich – wie ich im Nachhinein herausfand – die Wärmflasche im Webshop auch zur Abholung vor Ort hätte bestellen können.

Da möchte ich nun keine Klagen mehr über den bösen Onlinehandel hören, der dem Einzelhandel das Wasser abgräbt. Im vorliegenden Fall muss man leider sagen: selbst Schuld.

Die Sache mit der Wärmflasche ist indes ein zu vernachlässigendes Ärgernis. Viel nachhaltiger trifft mich die Einschränkung des Jeanssortiments in den Hamburger Filialen der Firma CECIL. Im Gespräch mit den Mitarbeiterinnen meiner Lieblingsfiliale wurde ich ausdrücklich aufgefordert, mich diesbezüglich persönlich bei CECIL zu beschweren. Sie hätten schon so oft um entsprechende Ware gebeten, da die Nachfrage bestehe. Leider ohne Erfolg. Ich verfasste daraufhin das folgende Schreiben.

Liebe Firma CECIL,

ich bin seit Jahren großer „Toronto“-Fan. Jeans kaufen war bisher so einfach: In den CECIL Store (…) gehen, nach einer „Toronto“ in der Größe irgendwo zwischen 26 bis 28 [gemeint ist die Bundweite in Inches] in 34er Länge suchen, anprobieren, kaufen, glücklich sein.

Nun wurde die Filiale in der Europapassage kürzlich geschlossen – kein großer Verlust, denn außer „meiner“ Jeans habe ich dort schon länger nichts rechtes mehr für mich finden können. Aber auch mein Lieblingsstore (…) bekommt kaum noch Hosen in 34er Länge, obwohl die Nachfrage besteht.

Wohl oder übel bestellte ich also drei lange „Torontos“ über den Webshop. Was ich hasse, denn ich will bei Klamotten anprobieren, entscheiden, was ich kaufe und fertig. Nicht bestellen, in Vorleistung treten, warten, bis das Paket kommt (was u. U. noch beschädigt und verzögert geliefert wird, wie jetzt geschehen), anprobieren, merken, daß „Toronto“ vom Schnitt nicht mehr zwingend „Toronto“ ist, ahnen, daß ich bei diesen beiden Fällen jetzt eine oder zwei Nummern größer anprobieren müßte, diese Größen aber nicht mitbestellt haben, sehr laut fluchen, zwei von drei Jeans wieder einpacken und zurückschicken, auf die Gutschrift warten und mich ärgern.

Liebe Firma CECIL, wissen Sie, was als nächstes passieren wird? Ich werde mich auf die Suche nach einer neuen Lieblingsjeans machen. Woanders.

Sehr schade.

So long,
Susanne Dirkwinkel

Ein paar Tage später erhielt ich eine Textbaustein-Antwort. „Diese direkte Rückmeldungen unserer Kunden“, „sehr wichtig“, „an die zuständige Abteilung weitergeleitet“, „unseren Service und unsere Leistungen stetig optimieren“; ihr kennt das. Weiter passierte nichts und bei den letzten Besuchen in der Lieblingsfiliale stellte ich keine Bewegung fest.

Das Modell „Toronto“ ist, was im Fashionsprech mit „Straight leg, high rise, regular fit“ (gerades Bein, hohe Taille, bequeme Passform) bezeichnet wird. Ich bevorzuge dunkle bis sehr dunkle Blautöne, bin aber auch für andere Farbvarianten offen und vermeide generell bei meiner Kleidung jeglichen Tüdelüt (Motivstickereien, Strass-Steinchen, lustige Metallnupsis etc.).

Hat eventuell jemand eine heiße Empfehlung für mich?

The Elphi is open

Nun ist sie endlich eröffnet, unsere Elphi, und es gibt kaum jemanden, der keine Meinung oder wenigstens Meldung dazu hat.

Der komplette NDR und nicht nur die Lokalpresse überschlugen sich tagelang, der (klassische) Musikbetrieb kannte kaum ein anderes Thema und auch meine Timelines mischten kräftig mit: Falk schrieb über Kunst, die kein bürgerliches Vergnügen sei, Torsten berichtete vom fotografischen Scheitern und bei „Hamburg unter sich“ gab „die Neue“ bereits im vergangenen November ihren Einstand.

Am Nachmittag fiel mir auf Twitter dann noch ein Beitrag des Kunstmagazins „art“ ins Auge, geteilt von Anke Groener. „In Hamburg sagt man Philli“, so lautet die Überschrift. Der Spitzname ist auch Thema des letzten Artikelabsatzes:

Was sagt der Volksmund? „Elbphilharmonie“ ist als Rufname definitiv zu lang, da war man sich einig. „Elphi“ johlte es deshalb vorschnell auf großgedruckten Überschriften, so solle das Wahrzeichen von nun an heißen. Derweil hatte sich unmittelbaren Nachbarschaft längst das bedeutend mondänere „Philli“ als Abkürzung für das Schmuckstück durchgesetzt. Also Vorsicht: Wer in Hamburg weiterhin von der „Elphi“ spricht, outet sich unfreiwillig als Pinneberger.

Ist das so? Seltsam nur, dass sämtliche Social Media-Kanäle der Elbphilharmonie höchstselbst mit „Elphi“ arbeiten, ebenso der Eigentümer, die Stadt Hamburg, sowie das Residenzorchester und überhaupt: alle, die ich kenne, ob in Hamburg oder außerhalb. Als Verballhornung der Verniedlichung ist vielerorts auch vom „Elbvieh“ zu hören und zu lesen.

Also, liebe Kollegen von „art“: Guten Morgen! Der Drops ist längst gelutscht.

Ich freue mich derweil auf meinen ersten Konzertbesuch im Großen Saal: Am 10. Februar ist es endlich so weit.

Very british

Apropos Royal Albert Hall.

Das kam bei der Planung meines Londonbesuchs im September direkt an dritter Stelle, gleich hinter Flug und Unterkunft: Gibt es noch Tickets für ein BBC Prom-Konzert im fraglichen Zeitraum? Es waren nicht mehr viele, aber es gab, und um die Sache abzurunden, buchte ich noch die „Grand Public Tour“ dazu.

Die ist, gemessen an der Länge, zwar kein Schnäppchen und der Blick hinter die Kulissen hält sich in Grenzen, wenn die Halle in Konzertvorbereitung steht und es bis zur berühmten „Last Night“ kaum mehr eine Woche ist. Dennoch, ich lernte eine Menge und hatte zudem mein Vergnügen an der energiegeladenen Präsentation der jungen Dame, die uns herumführte.

Was ich unter anderem nicht wusste:

  • Der volle Name des Hauses lautet „Royal Albert Hall of Arts and Sciences“.
  • In der Royal Albert Hall kann man nicht nur Konzerte erleben, sondern auch Boxkämpfe und hochkarätige Tennisereignisse.
  • Im Elgar Room auf der „Rausing Circle“-Ebene steht „Big Red“, der rote Flügel, auf dem Elton John während seiner „Red Piano Tour“ spielte. Auch hier finden Konzerte statt.
  • Für eine Aufführung von „Madame Butterfly“ wurde die Bühne geflutet.
  • Die Akustik in der Hall war ursprünglich ganz furchtbar. Die Form der Decke erzeugte ein mehrsekündiges Echo – schrecklicher geht es kaum, bedenkt man die hauptsächliche Nutzung des Gebäudes als Konzertsaal. Erst durch den Einbau der „Mushrooms“ genannten Fiberglasscheiben im Jahre 1969 wurde dieses Problem beseitigt.

    BBC Proms
    Mushrooms
  • Während der Prom-Konzerte zieht eine Büste Sir Henry Woods aus der Royal Academy of Music in die Royal Albert Hall um. Sir Henry Wood (1869-1944) gilt als der Erfinder der (BBC) Proms.
  • Zur Finanzierung des Gebäudes wurden in den 1860er Jahren unter anderem Plätze zum Preis von je 100 Pfund an Privatpersonen verkauft. Das Nutzungsrecht für diese beläuft sich auf 999 Jahre, gezählt ab der Eröffnung im März 1871. Rund 1.300 der bis zu knapp über 5.200 (Sitz-)Plätze sind somit noch immer in Privatbesitz und wenn davon einige zum Verkauf angeboten werden, steht das als „seltene Gelegenheit“ in der Presse.
  • Queen Victoria erwarb seinerzeit 20 Plätze, die in der Queen’s Box zusammengefasst sind. Das ist die Doppelbox mit dem Krönchen auf der „Grand Tier“, der Beletage des Konzertsaals. Wenn in der Queen’s Box keine Königlichen sitzen, werden die Plätze unter den Mitarbeitern des Buckingham Palace verlost.
  • Die Queen selbst besucht die Royal Albert Hall nur einmal im Jahr, und zwar zum „Festival of Remembrance“ im November.
  • Es gibt einen Treppenaufgang nebst Aufenthaltsraum, der den Mitgliedern der königlichen Familie vorbehalten ist, wenn sie sich im Gebäude aufhalten. Die Tür zu beidem liegt praktischerweise direkt gegenüber der Queen’s Box. Sie befindet sich zwischen Tür 7 und 8, ist selbst aber unmarkiert. Einige Mitarbeiter der Royal Albert Hall nennen sie deshalb „Tür 7 3/4“ – in Anlehnung an Gleis 9 3/4 der King’s Cross Station aus „Harry Potter“.

Im Anschluss durfte ich dann die Hall als Konzertsaal live erleben: Im Prom 70-Konzert spielten Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin Mozart und Bruckner. Von meinem Sitz in den Stalls aus hatte ich einen guten Blick auf die Bühne, aber auch auf die Stehplätze im Innenraum, dem Reich der sogenannten Prommers. Diese Stehplätze kosten 6 Pfund und man muß sich lange vor dem Konzertbeginn einen guten Platz in der Schlange sichern, um vorne dabei zu sein. Die Prommers sammeln während der Konzerte für karitative Zwecke und sind auch ansonsten immer für eine Aktion gut. Da stehen alle Sorten Leute, darunter auch solche, die sich während des Konzerts ungefähr so bewegen, wie ein Hanseat bei einem Rockkonzert – gemäßigt enthusiastisch also, aber definitiv agiler, als man es vom gemeinen Klassikgenießer her gewohnt ist. Sehr sympathisch.

Zur Krönung des Tags und Abends machte ich schließlich noch die (fortdauernde) Bekanntschaft meiner sehr netten Sitznachbarin.

Da muss ich nochmal hin.

(Jahres-/Konzert-)Rückblick 2016

Jahresrückblick 2016? Ach. Ich beschränke es wohl auch in diesem Jahr besser aufs Musikalische.

Die bemerkenswerten Premieren:

sowie

Die Wiederholten:

Neue Orte:

Das schönste Konzert:

Die Liste der neuen Orte steht hier nicht von ungefähr, denn das „Wo“ ist für mich inzwischen ein ganz wesentlicher Teil des „Wie“. So hätte ich beispielsweise sehr gerne Nils Landgrens diesjähriges „Christmas with my friends“ erlebt, aber nicht im Mehr! Theater am Großmarkt. Der Bruch zum Konzert im Michel vor zwei Jahren erschien mir zu groß – nichts gegen die Halle an sich, aber Atmosphäre ist etwas ganz, ganz anderes.

Es ist also nur recht und billig, an dieser Stelle auch die schönste/beste/beeindruckendste Location des vergangenen Jahres zu benennen. Bis Ende August stand da der resonanzraum unangefochten auf Platz 1. Wie kaum ein anderer Ort symbolisiert dieser für mich den erfolgreichen Grenzgang zwischen den Genres – großes, sehr großes Wohnzimmer-Potential.

Royal Albert Hall
Royal Albert Hall

Aber dann kam der September und London und die Royal Albert Hall. Ich meine, Entschuldigung, aber: Royal. F*cking. Albert. Hall. Oder, wie Daniel Hope sagte: „Still no hall on the planet quite like it.“ Nicht zu toppen. Gar keine Chance. Ich beneide die Londoner um diesen Konzertsaal (und um die BBC Proms). Glühend.

Somit landet der resonanzraum in diesem Jahr „nur“ auf Platz 2 – und im nächsten Jahr eröffnen die Konzertsäle der Elbphilharmonie…

Und da ein musikalischer Jahresrückblick ohne die Erwähnung von David Bowie zwar möglich, aber sinnlos ist, verweise ich an dieser Stelle auf meinen Nachruf vom 11. 1. 2016. Von allen im Jahr 2016 von mir auf Facebook veröffentlichten Texten bekam dieser mit Abstand die meisten Sympathiebekundungen.

Film ab: The Muppet Christmas Carol

Marley was dead: to begin with.

Vor Jahren erschien auf dem Instagram-Account der englischen Buchhandelskette Waterstones die Abbildung der ersten Seite einer Ausgabe der „Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens. Das Thema: berühmte erste Romansätze.

Beinahe reflexartig dachte ich bei diesem Anblick: „Moment! Muss es nicht ‚The Marleys were dead: to begin with.‘ heißen?“ Kurz darauf tanzten vor meinem inneren Auge Statler und Waldorf in Ketten vor Sir Michael Caine, „We’re Marley and Marley“ singend, und mir war klar, woher dieser Reflex stammte.

Es ist ein unkaputtbares Weihnachtsritual, hingebungsvoll gepflegt von meiner kleinen Schwester und mir: Über die Weihnachtsfeiertage wird „The Muppet Christmas Carol“ geguckt, den augenrollenden Kommentaren des familiären Rests zum Trotze. Wir können den Film inzwischen komplett mitsprechen.

Da ist das Zusammenspiel der kongenialen Muppetbesetzung mit Michael Caine, der zu kaum einem Zeitpunkt wirkt, als ob er auch nur bemerkt, dass die meisten seiner Schauspielerkollegen nicht aus Fleisch und Blut sind*). Da sind die liebevollen, bis ins Detail ausgestalteten Kulissen: Noch beim x-ten Durchlauf kann man immer noch Neues entdecken; man achte z. B. auf die Namen der Geschäfte im Stadtbild. Und natürlich die Musik!

Das beste allerdings, und auf die Idee kommt man nicht zwingend, wenn man das singende Gemüse sieht („Mother always taught me: Never eat singing food!“): Die Muppetadaption bleibt trotz aller notwendiger Straffung und Anpassung an das Format sehr nah am Original. So ist beispielsweise ein Großteil des Textes von Charles „Gonzo“ Dickens im Film direkt aus dem Buch übernommen worden. Und als Rizzo bei der Ankündigung des Geisterbesuchs Bedenken äußert, die Situation könne für die Kinder im Publikum eventuell zu beängstigend sein, kontert Gonzo souverän: „Nah, it’s all right. This is culture!“

Und so funktioniert hier, was der Schlusssatz empfiehlt und was bei vielen anderen Literaturverfilmungen deutlich weniger ratsam ist: „If you liked this, you should read the book!“

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!


*) „I’m going to play this movie like I’m working with the Royal Shakespeare Company. I will never wink, I will never do anything Muppety. I am going to play Scrooge as if it is an utterly dramatic role and there are no puppets around me.“ Brian Henson zitiert aus dem ersten Gespräch mit Michael Caine über die Rolle des Scrooge. („How we made: The Muppet Christmas Carol“, in: The Guardian, 21. 12. 2015).

In Concert: Das Tingvall Trio in der FABRIK

Ich erinnere nicht mehr genau, wann die Algorithmen bei Spotify angefangen haben, mir Jazz und -verwandtes in den „Mix der Woche“ zu spülen. Plötzlich war da „Remembering“ von Avishai Cohen, dann kamen zwei, drei Sachen von Ibrahim Maalouf dazu, „Kneel Down“ vom Neil Cowley Trio, „746“ vom Trio Elf und so weiter; nicht auffällig viel, aber es war immer mal wieder etwas aus der Richtung dabei.

So auch geschehen mit „Den Gamla Eken“ vom Tingvall Trio. Das war, und das weiß ich in diesem speziellen Fall genau, Anfang Mai dieses Jahres und traf meine seinerzeit (vorsichtig) optimistische Frühlings-Aufbruchsstimmung auf den Punkt. Zwar wurde diese wenige Tage später brutalstmöglich ausgebremst, doch der Titel verblieb in meiner „Best of ‚Mix der Woche'“-Playlist und der Name Tingvall in meinem Gedächtnis.

Auch aus diesem Grunde saß ich Ende August in der Staatsoper und sah und hörte Martin Tingvall zum ersten Mal live spielen. Es gibt einige Pianisten, die mich beeindrucken, faszinieren, deren Spiel ich bewundere und deren Musik zu meinen Lieblingen zählt. Es gibt aber nur sehr, sehr wenige, in die ich aus dem Stand klavierverliebt bin. Martin Tingvall ist erst der Zweite.

Warum genau, ist schwer zu erklären. Wenn ich schreibe, dass ich bei Martin Tingvall nicht höre, wo der Mann aufhört und der Flügel anfängt und dass ihm das Instrument Stimme ist, ist das nur ein Teil. Die Art des Körpereinsatzes spielt eine Rolle, ebenso wie die Tatsache, dass er zu den Menschen gehört, die einem ausgewachsenen Steinway & Sons-Konzertflügel mit all seinen Stärken und Schwächen ganz und gar spielerische, leichte, ja zärtliche Töne entlocken können. Überhaupt, Spielfreude: Wenn es jemanden gibt, auf den dieser Begriff zutrifft, dann auf Martin Tingvall.

Da kommt der Rest des Trios ein bisschen zu kurz, zugegeben. Das ist nicht gerecht, aber ich bin nun einmal hemmungslos pianozentriert. Ich hoffe, Jürgen Spiegel (Drums) und Onar Rodriguez Calvo (Bass) können mir das verzeihen.

Jedenfalls, es war grandios gestern. Die komplett ausverkaufte FABRIK tobte und es wird mit Sicherheit nicht mein letztes Tingvall Trio-Konzert gewesen sein.

In Concert: Enno Bunger auf Kampnagel

Als ich im Februar dieses Jahres zum ersten Mal bei HAM.LIT – Lange Nacht junger Literatur und Musik war, hinterließ der formatbedingt leider recht kurze Auftritt von Enno Bunger bei mir einen nachhaltigen Eindruck. Ich verliebte mich augenblicklich in „Neonlicht“, solo am Tasteninstrument, fremdelte dann aber mit der beatlastigen Albumversion. Überhaupt stellte ich beim flüchtigen Durchhören der Tonträger auf Spotify schnell fest: Enno Bunger, das ist einer von den Livemenschen. Einer, den man immer wieder im Konzert hören will, weil auf der (Studio-)Konserve – so schön sie auch ist – irgendwie etwas fehlt. Ein Grund, warum ich mir sehr bald nach der Ankündigung eine Karte für das gestrige Konzert auf Kampnagel sicherte.

Da saß ich dann, latent kopfschmerzig und etwas zerstört durch eine aus unspezifischen Gründen schlafarme Nacht zuvor, und freute mich, dass das Programm genau das erfüllte, was der Titel „Herzen auf links – auf die leise Tour“ versprach. Wenn meinem Sprachempfinden auch bei der ein oder anderen Textstelle ein leises Ächzen entfuhr, so wurde das musikalisch-atmosphärisch mehr als ausgeglichen. Wozu auch der spar-, aber wirksame Einsatz von Lichteffekten beitrug. Schade nur, dass die Kampnagel’sche Diskokugel in der K6 klemmte – ein langsames, gleichmäßiges Rotieren bei „Ich möchte noch bleiben, die Nacht ist noch jung“ hätte den auch so schon reichlich vorhandenen Gänsehautfaktor wohl nochmal um mindestens eine halbe Stufe erhöht.

Als Sahnehäubchen gab es „Bleib bei mir“, ein Element of Crime-Cover, sowie als erste Zugabe eine komplett unverstärkte Version von „Heimlich“ mit Akkordeonbegleitung und Trompeteneinlage. Dieses spezielle Vergnügen wurde nur dadurch geschmälert, dass schräg links hinter mir eine Dame den gesamten Song mitsang und dabei bedauerlicherweise nicht einen einzigen Teil der Melodielinie auch nur näherungsweise traf. Aber das muß man wohl zu den Risiken und Nebenwirkungen des Konzertbesuchs zählen. Und: Anlässlich der Tour wurden die Live-Akustik-Versionen von 5 Titeln als EP („Herzen auf links“) veröffentlicht. Somit habe ich meine Lieblingsversion von „Neonlicht“ jetzt auch zum Nachhören.

Alles richtig gemacht, Herr Bunger. Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei.