Theater, Theater: „Der Fall Furtwängler“ im Ernst Deutsch Theater

Schuld war mal wieder ein Plakat. „Die beiden kenne ich doch“, denke ich, als mein Auge an einer U-Bahn-Haltestelle daran hängenbleibt. „Boris Aljinovic und der Hamburger Jedermann. Kontrastreiche Besetzung. Und mit Musik hat es auch noch zu tun.“ Dann bin ich nach Hause gefahren und habe eine Karte für die Dernière am vergangenen Sonntag gekauft. Was lehrt uns das? Print ist nicht tot!

Ein paar Tage später hallen das Stück und die Darbietung desselben immer noch nach. Der Kontrast zwischen Dr. Wilhelm Furtwängler (Robin Brosch), dem Kulturmenschen mit Haltung und besten Verbindungen zur Elite des sogenannten Dritten Reichs und Major Steve Arnold (Boris Aljinovic) dem bekennend kulturlosen Versicherungssachbearbeiter, der als Soldat die Zustände im KZ Bergen-Belsen unmittelbar nach der Befreiung durch die amerikanische Armee erleben musste, könnte größer nicht sein. „Taking Sides“, so der treffende Titel der Verfilmung des Stoffes von 2001, ist dennoch keine ganz einfache Sache. Denn die zunehmend fanatisch anmutenden Versuche Arnolds, den „Bandleader“ und „Big Boy“ „dranzukriegen“, stoßen ab. Zumal die Beweislage gegen den Dirigenten einigermaßen dürftig erscheint.

Unwillkürlich fragt man sich beim Fortgang der Ermittlungen und Befragungen, ob es hier wirklich noch um die Entnazifizierung Furtwänglers geht. Oder ob der Amerikaner Arnold nicht vielmehr seine Abneigung gegen den Vertreter einer Kulturelite auslebt, dessen Anspruch und künstlerische Motivation er nicht versteht und dessen Lebensstil und Privilegien er neidet. Was keineswegs die Frage erübrigt: Hat Furtwängler sich korrumpieren lassen? Oder lediglich den bequemeren Weg des geringsten Widerstands gewählt? War seine Entscheidung richtig, in Deutschland zu bleiben und damit durch seine bloße Anwesenheit das Regime zu unterstützen? Kann man Kunst von Politik trennen, zumal unter solchen Umständen? Was können Kunst und Musik ausrichten gegen Aggression, Repression und Entmenschlichung?

Da ist nur eines sicher: Die Übergänge zwischen falsch und richtig können mitunter fließend sein. Das ist heute nicht anders als damals. Umso wichtiger, sich diesen Fragen schon meilenweit vor den Eskalationsstufen „Diktatur“ und „Weltkrieg“ zu stellen.

„Nennt mich Ismael.“

So lautet einer der berühmtesten Romananfänge, nämlich der von – wer weiß es, wer weiß es? Richtig: „Moby Dick oder Der (weiße) Wal“ von Herman Melville. Der Stoff ist gerade ziemlich en vogue in meiner Wahlheimat, steht er doch innerhalb weniger Tage sowohl im Thalia Theater als auch im Schauspielhaus auf dem Spielplan. Während jedoch im Thalia eine ortsübliche Theaterinszenierung zur Aufführung kommt, sahen wir im Schauspielhaus eine musikalische Lesung mit Ulrich Tukur am Text und Sebastian Knauer am Konzertflügel.

Eigentlich eine Idealbesetzung. Und ein schlagendes Konzept: Ulrich Tukur zaubert eine Kompaktversion des sattsam bekannten Stoffs aufs Parkett, während Sebastian Knauer diese mit Stücken unter anderem von Franz Liszt, Modest Mussorgsky, Antonin Dvorak, Fréderic Chopin und Scott Joplin untermalt. Und doch ließen mich die knapp 90 zugegebenermaßen furiosen Minuten seltsam unbefriedigt zurück. Dabei waren die Textpassagen perfekt gewählt: Ismael und Queequeg werden vorgestellt, man erfährt einiges über Nantucket und das Schiff, die Pequod und schließlich auch über dessen Kapitän Ahab, alles hübsch nach der Reihenfolge des Auftretens auch im Roman. Dann aber geht alles ganz fix: Moby Dick wird gesichtet und kaum bekommt man mit, dass nicht nur die ausgesetzten Walfangboote, sondern auch die Pequod selbst versenkt wird, da hat es Ahab auch schon  aus dem verbleibenden Boot gerissen, Ismael findet Queequegs Rettungskanu – und Schluss.

Nennt es Jammern auf hohem Niveau, aber irgendwie fehlte mir da der Mittelteil. Und die Zwischentöne.

Theater, Theater: „König Lear“ im Deutschen Schauspielhaus

Der Zufall wollte, dass ich zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen eine Inszenierung des „Lear“ sah: Zuerst eine Produktion des Chichester Festival Theatre mit Ian McKellen in der Titelrolle (gezeigt im Savoy im Rahmen der „English Theatre“-Reihe) und gestern die Version von Karin Beier im Deutschen Schauspielhaus.

Fangen wir mit der Nummer zwei an. In den etwas über drei Stunden der Dauer des Stücks fühlte ich mich die meiste Zeit gut unterhalten. Ich mochte die Bühne, die Kostüme, den Umgang mit und Einsatz von Geräuschen, Tönen und Musik (insbesondere das Klavierspiel) und das Ensemble, allen voran Jan-Peter Kampwirth, Edgar Selge und Lina Beckmann. Ich mochte, dass das Stück als solches erkennbar blieb. Ich mochte auch den offensiven und offensichtlichen Geschlechtertausch bei der Besetzung der Schwestern Goneril und Regan und der Rolle des Edmund. Und obgleich ich kein Fan von schreiender und tobender Nacktheit bin, so ist der Einsatz dieser Elemente doch absolut vertretbar, wenn in dem zu inszenierenden Stück zwei Wahnsinnige und ein Narr darzustellen sind. Was ich überhaupt nicht mochte: die Überfrachtung des Stücks mit aktuellen Bezügen. Besonders hervorstechend war dabei der arme königstreue Kent als blondperückiger, pöbelnder und obendrein auch noch sächselnder Wutbürger. Schon das Klischee wäre mir zu dumm gewesen, aber wie passt das zur Figur, zum Stück? Gar nicht. Es tut nicht Not, den „Lear“ in dieser Form aufstocken zu wollen. Die Story ist hochaktuell, um nicht zu sagen zeitlos. Es ist nicht das erste Mal, dass ich nach Genuss einer zeitgenössischen Theater- bzw. Operninszenierung zu dem Schluss komme: Weniger wäre sehr viel mehr gewesen.

Was mich direkt zur britischen Version bringt. „Aktualisiert“ waren hier lediglich Bühnenbild, Ausstattung und Kostüme. Alles darüber hinaus wurde dem Spiel überlassen, in dessen Mittelpunkt der geistige und körperliche Verfall des Lear und dessen Interpretation durch Ian McKellen stand. Auch in dieser Produktion waren Frauen in Männerrollen zu sehen, was allerdings nicht automatisch zu der Frage „was will der Regisseur uns damit sagen“ führt. Dass Besetzungen unabhängig von Geschlecht oder Hautfarbe vorgenommen werden, ist jenseits des Kanals offenbar völlige Normalität.

Ich will nicht behaupten, der originalgetreuere „Lear“ wäre auch automatisch der bessere gewesen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Stück sind kaum vergleichbar. Was ich aber am „English Theatre“ so sehr genieße: Ich kann völlig unvorbereitet in eine Aufführung gehen und mir eine Geschichte erzählen lassen. Zum Beispiel eben die des Königs, der eines Tages beschloss, noch vor seinem Tod die Königswürde und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Und bekomme dabei die Chance, neben der eigentlichen Handlung ohne Eingriff in den Text und überfrachtende Symbolik zu begreifen, wie universal und übertragbar diese Geschichte ist. Bei „König Lear“ von Karin Beier wäre das undenkbar gewesen. Hätte ich Story und Originalfiguren nicht schon gekannt und dadurch den roten Faden einigermaßen im Blick behalten, ich hätte vermutlich zur Pause aufgegeben.

Was ich gern hätte: Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Theaterwelten. Ob es das wohl irgendwo gibt?

Internationales Sommerfestival 2018 auf Kampnagel

Jetzt ist es mir über der Nachbetrachtung des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals doch tatsächlich Herbst geworden, allen guten Vorsätzen zum Trotze. Es ist ein Kreuz.

Internationales Sommerfestival

In diesem Jahr hatte ich trotz mehrfachen Besuchs das Gefühl, das Festival nur ganz am Rande gestreift zu haben. Einige für mich hochinteressante Veranstaltungen konnte ich aufgrund von Terminkollisionen leider nicht wahrnehmen und ein spontan gefasster Entschluss fiel dummerweise dem noch spontanerem Totalausfall meiner Waschmaschine zum Opfer („Cuckoo“ von Jaha Koo nämlich). Immerhin, zu viermal Sommerfestival hat es gereicht, und alles war wieder dabei: Musik, Tanz, Theater, Performance. Aber der Reihe nach.

Malpaso Dance Company: Triple Bill

Eine Überschrift hatte dieser Abend zwar, aber keinen roten Faden – wenn man mal von den Protagonisten absieht. Mit den Stücken von Aszure Barton, Osnel Delgado und Cecilia Bengolea sowie der musikalischen Begleitung durch Arturo O’Farrill lieferte die Company vielmehr eine Art Vielseitigkeitsprüfung ab. Beim „Indomitable Waltz“ entzückte zwar die Musikauswahl (u. a. Michael Nyman und Nils Frahm), das Stück hinterließ mich dennoch rätselnd. Gruppen- und Soloszenen wechselten sich ab mit Zweier- und Dreierkonstellationen. Waren Beziehungen das Thema? Falls ja: Zwischenmenschliche? Das Programmheft half da nicht weiter. Die Musik des Jazzoktetts unter der Leitung von Arturo O’Farril war das dominierende Element bei „24 Hours and a Dog“. Sowohl die Tänzer als auch ein eventuell vorhandener tieferer Sinn wurden in Windeseile zweitrangig. Vielleicht nicht ganz der Sinn der Übung, dafür aber umso mitreißender. Das drang sogar durch das außerordentlich herausfordernde Raumklima (Motto: „Heiß, heißer, K6“). Außerdem: Eine Latin-Version des irischen Traditionals „She moved through the fair“ klingt unmöglich, ist es aber nicht – zumindest, wenn man es so kann wie Arturo O’Farril und seine Mitstreiter. Den Schluss bildete „Liquidotopie“, die Auftragsarbeit Cecilia Bengoleas. Yoruba, jamaikanischer Dancehall sowie die Bewegungen von Oktopussen wurden als Inspiration genannt. Meinem Geschmack nach zu viele Ideen für ein Stück, das Oktopusthema hätte vollkommen ausgereicht. Musikalisch und choreographisch war das nicht durchgängig; der Mittelteil wich zu sehr ab und es wurde nur beinahe eine Geschichte erzählt. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der Solosänger unter den Tänzern, der auch im Kopfstand noch weitersang. Ein klein wenig effekthascherisch, aber nichtsdestotrotz beeindruckend.

Fazit: Schön und gut, aber, und ich bemerkte es bereits im letzten Jahr, die Eröffnungsveranstaltung ist nicht das Sommerfestival. Kann man vielleicht auch nicht erwarten. Wobei der Begrüßungssekt schon nett ist. Und das Schaulaufen und die Reden, diesmal gar mit Erstem Bürgermeister! Den ich noch so wenig präsent habe, dass er mir erst durch die Anwesenheit mehrerer Personenschützer ins Auge fiel. Ob es ihm gefallen hat?

Ho Tzu Nyen: The Mysterious Lai Teck

Das war meine P1-Premiere! Empfohlen hat sich mir der Raum allerdings nicht: Klein, eng und stickig kam er daher. Ein Teil des Abstrichs muss zwar der Witterung zugerechnet werden, aber in den anderen Sälen ist mehr Platz pro Person eingeplant, und das spielt eben auch eine Rolle. Nach zwanzig Minuten traten Technikschwierigkeiten auf und das Programm musste neu gestartet werden. Die Untertitel waren anstrengend, dazu kam eine Sitznachbarin, die nicht eine Minute lang stillsitzen konnte und mir ständig ihren Fächer ins Blickfeld wedelte. Und dennoch: Spätestens, als sämtliche realen und virtuellen Vorhänge sich lüfteten und eine überlebensgroße, kongenial an- bzw. ausgeleuchtete und mit Videoprojektionen kombinierte animatronische Figur in den Vordergrund der Erzählung rückte, war ich gefesselt. Dass es sich dabei um eine überlebensgroße Figur und wirklich nur um eine Figur und keinen lebendigen Schauspieler handelte, war dabei aus den Publikumsrängen heraus nur sehr schwer festzustellen. Mir ging bei alldem auf, wie wenig ich über Südostasien im allgemeinen und die Kolonialgeschichte der Region im Speziellen weiß. Allein das Bewusstwerden dieses Umstands kann Ho Tzu Nyen als Erfolg buchen.

Thom Luz: Girl from the Fog Machine Factory

Man nehme Musik (Streicher, Celesta, mehrstimmiger Gesang), Nebelmaschinen in allen Größen und Ausführungen, eine stimmige Bühnenausstattung, eine liebevoll und detailreich umgesetzte Grundidee, wunderbare Schauspieler, allen voran Samuel Streiff und fertig ist das Festivalhighlight. Die Titelfigur sprach den Satz des Abends: „I don’t understand everything, but I like the atmosphere“. Die Mehrzahl des anwesenden Publikums sah es ähnlich.

Einerseits toll, andererseits umso ärgerlicher, dass ich „Sea of Fog“ in der St. Gertrud Kirche verpasst habe. Passiert mir nicht noch einmal.

Mouse on Mars: Dimensional People

Sommerfestival in der Elbphilharmonie – das sehe ich immer noch mit gemischten Gefühlen. Allein, da das musikalische Programm sich offenbar dauerhaft dorthin verlagert und die Musik bei mir nun einmal im Vordergrund steht – was hilft’s. Mouse on Mars waren mir bisher nur dem Namen nach ein Begriff, ebenso wie die meisten Gäste, die sich das Duo zum Konzert hinzugeladen hatte. Bis auf Andrea Belfi, mit dem ich an dieser Stelle gar nicht gerechnet hatte. Eine schöne Überraschung, die mich direkt zu dem bringt, was mich bei dem Konzert am meisten beeindruckte: die dreiköpfige Rhythmusgruppe, bestehend aus Belfi, Dodo NKishi und Kresten Michael Osgood, der sich vornehmlich mit wenig bis gar nicht bearbeitetem Totholz verlustierte. Zwar fielen dafür die filigraneren Teile gerade zu Anfang etwas holpriger aus und die Dynamik mancher Einspielung hätte man durchaus überdenken können, aber das fällt unter Nebensache.

Und sonst so?

In dem von Ladja Vogt, Jan Gazarra und Urs Amadeus Ulbrich gestalteten und von JAJAJA bespielten Avant-Garten habe ich leider viel zu wenig Zeit verbracht.

Avant-Garden

Avant-Garden

Avant-Garden

Ich vermisste den Festivalvorhang und das Orchesterkaraoke. Dafür umso schöner: Die Festivalshots, die in diesem Jahr von Peter Hönnemann beigesteuert wurden. Lieblingsbild: Andreas Dorau!

Festivalshots

Auch die Hörstation mit der Festivalplaylist hat mir gut gefallen.

Und im nächsten Jahr mach ich es wieder richtig. Mit Festivalkarte und so.

Im Rückstand

Um den Faden nicht komplett zu verlieren, hilft jetzt nur noch Kompaktverbloggen. Es folgen zweimal Theater und zweimal Musik.

„Antigone“ mit Bodo Wartke und Melanie Haupt im Schmidts Tivoli

Darauf war ich sehr gespannt: Wie gehen ein hochdramatisch klassisches Werk und Klavierkabarett zusammen? Zwar hatte Bodo Wartke zuvor schon mit „König Ödipus“ unter Beweis gestellt, dass man Sophokles auch humorvoll präsentieren kann, ohne respektlos zu wirken. Aber „Antigone“ ist da noch einmal eine andere Liga. Abgesehen davon wird einem bei näherer Betrachtung des Stücks mehr und mehr bewusst, wie geradezu unangenehm aktuell dieser Stoff eigentlich ist. So gab es nicht wenige Momente während der öffentlichen Generalprobe (bzw. inoffiziellen Premiere), in denen im Raum gebannte Stille herrschte und einem das Lachen im Halse stecken blieb. Nachdem alle Tode gestorben sind, sitzen Bodo Wartke und Melanie Haupt auf der Bühne, reflektieren das Geschehene und schaffen das nahezu Unmögliche: die Transformation von Tragik und Moral zu einem mitreißend gesungenen Plädoyer für die Notwendigkeit des zivilen Ungehorsams. Auch das kann Unterhaltung. Hut ab!

„Junk“ im Deutschen Schauspielhaus

Ganz anders das Haus, der Ansatz, der Aufwand und naturgemäß das Publikum, aber ebenso aktuelles Thema: Ayad Akhtars Stück „Junk“ erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Investmentbankers, der das Finanzsystem auf den Kopf stellt, indem er aus Schulden Geld macht. Dass bei seinen Hochrisikooperationen regelrechte Blasen entstehen und real existierende Werte, Unternehmen und Arbeitsplätze zerstört werden, nimmt Robert Merkin billigend in Kauf. Die komplexen Abläufe hinter dem Geschäft mit den Ramschanleihen („Junk“) so zu erklären, dass man als Laie zumindest ansatzweise den (Aber-)Witz versteht, ist eine Schwierigkeit des Stücks. Text wie Regie meistern das gut. Der Anfang ist etwas zäh, aber dann bildet sich der Spannungsbogen, nicht zuletzt durch das laufend gesteigerte Tempo, und die letzten Minuten lassen erahnen, warum in diversen Kritiken das Wort „rasant“ verwendet wird. Obwohl nach wahren Begebenheiten erzählt, kamen mir einige Figuren überstilisiert vor. Ich fürchte allerdings, dass es sich dabei um reines Wunschdenken handelt – die Wahrscheinlichkeit, dass sich das alles genau so oder wenigstens sehr ähnlich abgespielt hat, ist vermutlich erschreckend hoch. Wie dem auch sei, „Junk“ hat mir gut gefallen. Auch schauspielerisch und vom Bühnenbild her.

Federico Albanese in der Elbphilharmonie

Es hätte ein perfekter Abend werden können, denn Federico Albaneses filigrane Mischung aus Elektronik, Klavier und Streichern und die sensible Akustik des Großen Saals der Elbphilharmonie sind quasi füreinander geschaffen.

Doch leider spielten weite Teile des Publikums nicht mit. Zu wenige ernsthaft Interessierte und zu viele zum Teil mit Bussen aus dem Umland herbei gekarrte Menschen zumeist fortgeschrittenen Alters saßen in den Rängen. Vermutlich hegten nicht wenige davon die Erwartung eines „schönen“ Konzerts mit einem italienischen Pianisten in dem sagenumwobenen Haus an der Elbe. Und so kam es, wie es kommen musste: Geraschel, Geflüster, Geklapper, aus dem Saal Gerenne; von den durch die gefühlt sechs bis acht im Raum befindlichen offenen Tuberkulosen komplett verhusteten und verröchelten Passagen fange ich gar nicht erst an, da riskiere ich am Ende noch einen Shitstorm. Ein Genuss war das jedenfalls nicht. Schade.

Nils Frahm in der Elbphilharmonie

Dass ich dem allerersten Auftritt von Nils Frahm in der Elbphilharmonie nur ein Viertel eines Blogbeitrags widme, möge mir bitte verziehen werden. Es war schon mein zweites Konzert der „All Melody“-Tour und die seinerzeit geäußerte Hoffnung, dass zwischen Januar und April ein weiteres Level erreicht werden könnte, erfüllte sich vollends. Hatte ich in Köln noch ungefähr 30% des Konzerts in den Bauch atmen müssen, so waren es jetzt 70%. Nur die aktuelle Liveversion von „Sunson“ ist mir (noch?) etwas zu hektisch, da wäre weniger eventuell mehr. Der gegenüber der Bühne leicht erhöhte Blick aus 13 I bot ein perfektes Sichtfeld, der Platz ist absolut wasserflaschensicher und entpuppte sich zudem als frei von störenden Nebengeräuschen. Wobei ich das begeisterte Mitschnarren der ortsansässigen Orgelpfeifen nicht mitzähle. Da hatte die Orgel im Kölner Pendant noch ganz andere Töne produziert. Apropos Orgel, über den „Panflötengenerator“ werde ich wohl noch eine Weile schmunzeln und ich finde es keineswegs bedauerlich, dass der Steinway keine Blutspritzer abbekommen hat (In die Hand hacken beim Messerschärfen, du meine Güte. Und das als Tastenmensch!). Das einzig Furchtbare an dem Abend: Er ist jetzt vorbei. Die Vorfreude auf die Musik einer meiner allerliebsten Künstler in einem meiner allerliebsten Konzertsäle – wie Geburtstag, Weihnachten und alle anderen Fest- und Feiertage zusammen! – wird mir fehlen.

So, und ab jetzt läuft es hier wieder im üblichen Takt! Ich werde mich zumindest bemühen…

Theater, Theater: „Unterwerfung“ im Deutschen Schauspielhaus

Anfang September stieß ich durch Zufall auf ein Bändchen, dessen Titel mir Unterstützung beim Erforschen meiner neu erwachten, noch sehr zart keimenden Theaterleidenschaft verhieß: „Wie es euch gefällt: der kleine Theaterversteher“ von Bernd C. Sucher. Untertitel („Alles was auf, vor und hinter der Bühne geschieht“), Klappentext, Einleitung und Kapitelaufteilung versprachen die kurze und knappe Vermittlung genau des Hintergrundwissens, an dem es mir mangelte. Was genau macht eigentlich ein Dramaturg? Woher kommt der Regisseurberuf und wie kommt es, dass er in Deutschland eine so besondere Rolle spielt? Wie erkenne ich, ob eine Produktion handwerklich stimmig ist, nach welchen objektiven Kriterien kann oder sollte ich eine Aufführung beurteilen? Ist das überhaupt (noch) möglich?

Als ich rund vier Wochen später endlich Muße fand, mich der Lektüre zu widmen, stellte sich nach wenigen Seiten herbe Enttäuschung ein. Was für eine Mogelpackung! Klare Definitionen und präzise Beschreibungen sind Mangelware. Stattdessen zitiert Sucher seitenweise um den heißen Brei herum, unter anderem Diderot, Lessing und Adorno, abwechselnd mit Schnipseln aus der Wikipedia. Dazwischen werden immer wieder Inszenierungsanalysen gestreut. Erstaunlich auch, wie viele Fachbegriffe bzw. generell Fremdwörter ich nachschlagen musste. Unter einem Einführungsband für Laien hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“, hallte es gleich mehrfach durch meinen Kopf. Für die Jüngeren unter uns: Das ist nicht original Brecht, aber beinahe.

Meinen Ärger herunterschluckend, kämpfte ich mich dennoch tapfer durch den Text. Zu den auf diese Weise härter als nötig errungenen Erkenntnissen gehört: Nicht das Regietheater im Allgemeinen ist, an dem ich mich in der Vergangenheit gestoßen habe. Es sind vielmehr die postdramatischen Auswüchse, bei denen Performance im Vordergrund steht und nicht ein Text oder die Schauspielkunst, und bei denen die Idee der Inszenierung in Reizüberflutung und Provokationslust untergeht – so denn überhaupt eine erkennbar, ja, vorhanden ist. Nichtsdestotrotz werde ich auch solche Veranstaltungen künftig mit anderen Augen betrachten können und mich fragen, ob ich bei der Beurteilung die richtigen, soll heißen: zur Gattung passenden Maßstäbe ansetze.

Nach Bernd C. Sucher habe ich in der Vorbereitung auf den gestrigen Theaterabend alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Ich hatte den dem Stück zugrundeliegenden Text, einen Roman von Michel Houellebecq, nicht gelesen und hätte das auch keinesfalls in der Originalsprache vermocht – meine Französischkenntnisse kann man bestenfalls als rudimentär passiv bezeichnen. Mir blieb keine Muße, mich mit der Inszenierung zu befassen, mit anderen Aufführungen, der Regisseurin, dem Bühnenbildner etc.; lediglich dem Namen Edgar Selge konnte ich ein Gesicht zuordnen. Ich beging sogar den Kardinalfehler, auf der Suche nach Orientierung noch vor dem Kartenkauf einzelne Kritiken zu überfliegen. Denen entnahm ich, dass eine überragende schauspielerische Leistung zu kargem, aber wirksamen Bühnenbild zu erwarten war.

Und wisst ihr was? Es stimmte nicht nur. Zumindest für den gestrigen Abend reichte es mir vollkommen.

„La Traviata“ in der Staatsoper Hamburg

Vor einigen Tagen wurde ich auf die Blogparade des Archäologischen Museums Hamburg in Zusammenarbeit mit Tanja Praske aufmerksam, die Überschrift lautet: „Verloren und wiedergefunden? Mein Kulturblick | #Kultblick“. Nun ist das Susammelsurium in seiner Gesamtheit ein Erfahrungsbericht der Wieder- und Neuentdeckung von allerlei Kulturellem mit musikalischem Schwerpunkt. Darüber eigens einen zusammenfassenden Text zu schreiben, hieße, sich in nicht wenigen Punkten zu wiederholen – etwas, was ich zu vermeiden versuche. Während ich noch darüber grübelte, flatterte mir die Einladung der Staatsoper Hamburg zum InstaWalk mit anschließendem Opernbesuch in den Posteingang. Der daraus entstandene Beitrag beantwortet zwar keine der #KultBlick-Fragen, jedenfalls nicht explizit. Aber das Thema hat viele Facetten. Der (Unter-)Titel für diese lautet: „Mit anderen Augen“.

Dass ich gestern Abend in der Staatsoper Hamburg saß und der Aufführung von „La Traviata“ lauschte, hatte sich kurzfristig ergeben. Es blieb keine Zeit, sich auf Oper und Inszenierung gebührend vorzubereiten. Wobei das im Prinzip nur für letzteres nötig gewesen wäre, denn Alexandre Dumas‘ Geschichte von der Kameliendame und mindestens die Arienhits der Umsetzung von Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave (Libretto) sind mir quasi von Kindesbeinen an bekannt.

Zwei Umstände führten dennoch dazu, dass ich das Gesamtgebilde Oper mit neuen Augen betrachtete.

Zum einen war es die vom Team der Staatsoper angebotene Führung am Nachmittag, die einer kleinen Gruppe Instagrammern, Twitterern und Bloggern Einblicke in Requisitenlager, Maske sowie auf und unter die Bühne gewährte.

Im Requisitenlager
Im Requisitenlager
Aufgetischt
Aufgetischt
Voller Einsatz
Voller Einsatz

Dabei lernten wir unter anderem, dass in den unterschiedlichen Gebäudeteilen nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen der (historischen) Land- und der Stadtseite unterschieden wird, der Bühnenraum 28m hoch ist, der Boden sich 10m absenken lässt und in ihm somit die „Rickmer Rickmers“ Platz hätte, warum es im Altbau, in dem sich Bühne und Künstlergarderoben befinden, keine Aufzüge gibt und dass sich für jede Sängerin und jeden Sänger – Solist oder Chor – ein eigenes Kopfmodell in der Werkstatt befindet, um Perücken nach Maß fertigen zu können.

Große Auswahl
Große Auswahl
Von Haupt- und anderen Haaren
Von Haupt- und anderen Haaren
Parsifal
Parsifal

Bevor man sich als Teil des Publikums lässig in seinen Sitz fallen lässt, um sich wahlweise berieseln, verzücken, verstören oder auch verärgern zu lassen, sollte man sich kurz vergegenwärtigen, wie viele Arbeitsschritte und helfende Hände, wie viel Handwerkskunst, Kommunikation, Koordination und Konzentration in jeder einzelnen Aufführung stecken. Die Ticketpreise relativieren sich damit sehr schnell und der Respekt vor der Leistung aller Beteiligter bleibt auch dann noch erhalten, wenn einem die Inszenierung nicht zusagt oder einer der Sänger einen schlechten Tag erwischt hat.

Soufflierplatz
Soufflierplatz
Auf der anderen Seite
Auf der anderen Seite

Zum anderen befand sich in der geführten Gruppe jemand, der noch nie im Theater war, bisher kein einziges klassisches Konzert besucht hat, am gestrigen Abend zum allerersten Mal eine Oper sah und daher mit einigen Fragezeichen in die Pause ging.

Ist das echter Text, singen die da wirklich Italienisch? Die Frage mag den Opernkenner bass erstaunen, aber wer neu in der Materie ist, die Story nicht kennt und versucht hat, aus den deutschen Übertiteln auf die jeweils gesungene italienische Textzeile zu schließen, stand streckenweise auf verlorenem Posten. Zumal die Bühnenhandlung inszenierungsbedingt nicht immer zu einhundert Prozent dem Libretto entsprach.

Ob das normal sei, diese ständigen Wiederholungen? Ganz schön anstrengend, der Gesang, insbesondere der hochfrequente Sopran. Meine Schwestern und ich, das fiel mir dabei ein, haben Koloraturen früher gerne als „Gejoller“ bezeichnet und zugegeben, ganz meine Stimme war das auch nicht. Rätselhaft waren dem Neuling zudem die auf geisterhaft getrimmten Gauklerfiguren, von Regisseur Johannes Erath mutmaßlich eingesetzt, den Andersweltcharakter des gewählten Schauplatzes zu betonen. Und dann war da noch das Violetta-Double, Teil des (übrigens ausnehmend schönen) Rahmenbildes zu Anfang und Ende der Inszenierung. Den Verlauf des 4. Bildes versteht nur, wer die Unterschiede zwischen literarischer Vorlage und Libretto kennt (bzw. wenigstens das Programmheft gelesen hat) oder entsprechend phantasiebegabt ist. Wobei: „Doch, doch das hab ich kapiert: eine zum Sterben und eine zum Singen!“ Genau.

Sterben dauert in der Oper ja prinzipiell ewig. Besonders anschaulich brachte das einst Herman van Veen mit dem Stück „Erstochen“ auf den Punkt. Die Augen des Opernnovizen schielten mehrfach auf die Uhr. Kaum verwunderlich, denn „La Traviata“ ist auch in dieser Hinsicht ein Extrembeispiel: Violetta benötigt zum Ableben gleich einen ganzen Akt. Die „wenigen Stunden“, von denen Dottore Grenvil am Anfang des Bildes spricht, werden gefühlt in Echtzeit ausgewalzt. Keine ganz leichte Einstiegskost also für jemanden, der ansonsten vorzugsweise elektronische Musik hört. Da hatte es Julia Roberts als Vivian Ward etwas leichter, damals in „Pretty Woman“. Gerade auch thematisch. Bravo fürs Durchhalten!

Ja, doch, so lautete das Fazit, ziemlich herausfordernd, aber interessant. Bestimmt nochmal Oper, wohl nicht sehr bald, aber irgendwann. Zu denken gab mir der Satz „Das ist doch eher etwas für ältere Leute, wenn ich mir das Publikum so ansehe.“ Dass wir den Schnitt gestern Abend gesenkt haben, war leider nicht zu leugnen. Ebenso wenig, dass es unter anderem dieser Umstand war, der mich selbst so lange mit der Staatsoper und symphonischen Konzerten hat hadern lassen. Was man dagegen tun kann? Sich öffnen, zum Beispiel mit Instagram & Co., und damit – wie geschehen! – neue Augen ins Haus locken.

Abgesehen von diesen Beobachtungen und Einsichten: Ich mochte die Kostüme, ebenso das Bühnenbild – nicht trotz, sondern wegen seiner Schlichtheit -, mir gefiel die Inszenierung und was die Gesangsparts angeht, fielen meine Eindrücke in etwa mit dem des Applausometers zusammen. Besonders viel Zuspruch ernteten Dinara Alieva als Violetta Valery (das war schon gut, nur halt knapp nicht meine Frequenz), Liparit Avetisyan als Alfredo Germont (ein Hauch zu viel Geschluchze für meinen Geschmack, aber andererseits: wo, wenn nicht bei „La Traviata“ und in dieser Rolle!) und vor allem Juan Jesús Rodríguez als Giorgio Germont (ich bin ja doch irgendwie ein Bariton-Mensch).

Übrigens, wer selbst einmal hinter die Kulissen der Staatsoper schauen möchte, kann sich einer öffentlichen Führung anschließen, eine private buchen oder aber das hauseigene Blog durchstöbern. Lieblingsbeispiele: im Schnelldurchlauf zur Parsifal-Hauptprobe und der #KopfdesFigaro.

Der #KopfdesFigaro
Der #KopfdesFigaro

London (Part III): Tag 4

Eigentlich wollte ich heute meinen Balkongarten winterfest machen, aber draußen tobt Sturm Xavier, es überschlagen sich die Martinshörner, Hoch- und S-Bahn verzeichnen erste Ausfälle und die Feuerwehr Hamburg twittert, man möge sich doch bitte lieber nicht draußen aufhalten. Außerdem, wenn ich mit der London-Nachlese im bisherigen Tempo fortfahre, bin ich noch bis Weihnachten dabei. Es folgt also die Rückschau auf Tag 4! Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Tatsächlich schaffe ich am vierten Tag, was ich mir vorgenommen habe: Ich stehe später auf, nehme mir gebührend Zeit für das im Übernachtungspreis enthaltene „Full English Breakfast“ im Senior Common Room des Imperial College und breche erst gegen Mittag gen Osten auf. Eine weitere Booking.com-Freifahrt nutzend, fahre ich ab Westminster Pier mit einem Schiff der Circular Cruise Richtung Tower. Die Tour an sich ist unspektakulär, wird aber kurzweilig durch die launigen Kommentare des Bootsmanns, der am Ende statt Hut einen Sektkübel (!) herumgehen lässt.

Am Tower wuseln wie meistens Touristen aus aller Herren Länder bunt durcheinander. Ich bedauere kurz, dass der Eintritt so teuer ist. Gerne hätte ich den Raben einen schnellen Besuch abgestattet. Sie sind mir, seit ich Ravenmaster Chris Skaife auf Twitter und Instagram folge, sehr ans Herz gewachsen. Vielleicht beim nächsten Mal wieder.

Heute habe ich ein anderes Ziel: die Erased Tapes Sound Gallery am Victoria Park.

Sound Gallery
Sound Gallery
Now playing: Ben Lukas Boysen
Now playing: Ben Lukas Boysen

Einmal, weil ich Fan bin und zum Zweiten, weil dort ein ganz besonderes Instrument quasi frei zugänglich ist: das Klavins Una Corda.

Please ask to play our piano
Please ask to play our piano
Una Corda
Una Corda

Seit ich das Teil im Mai 2015 auf der Kampnagel-Bühne zum ersten Mal gesehen und gehört habe, will ich darauf spielen. Damals war es Nils Frahm mit der No. 001, in London hingegen steht die No. 007. Wie es sich gehört.

No. 007
No. 007

Die Gallery ist zunächst leer bis auf die freundliche Dame, die sie bewacht und ich traue mich an die Tasten. Ich spiele drei Stücke, klimpere noch ein bisschen, entferne schließlich die Dämpferschiene und spiele weiter. Es klingt ein klein wenig verstimmt. Vermutlich passiert das bei dieser Bauweise schon, sobald sich der Klavierstimmer auch nur zur Tür dreht. Es erinnert mich – nicht vom Klang, nur vom Prinzip her! – an mein altes Stage Piano von Kawai, das ebenfalls nur eine Saite pro Ton besitzt. Seit ich das „richtige“ Klavier habe, treibt sich das EP608 irgendwo in der weitläufigen Verwandtschaft herum. Vielleicht sollte ich das gute Stück bei Gelegenheit zu mir nach Hamburg holen.

Zurück zum Victoria Park. Eine ausnehmend hübsche Gegend ist das! Und ohne das Una Corda wäre ich da wohl nie hingekommen. Ich schwatze und stöbere noch ein bisschen, kaufe zwei CDs und reiße mich schließlich los.

Abends begebe ich mich erneut ins West End. Im Duchess Theatre wird „The Play That Goes Wrong“ gegeben, und das bereits im dritten Jahr. Erst ein paar Wochen zuvor hatte das Stück auf dem Spielplan des St. Pauli Theaters gestanden. Die Plakatankündigungen dazu hatten mich seinerzeit auf die Idee gebracht, mir das Original anzuschauen. „The Play That Goes Wrong“ besteht im Wesentlichen aus Slapstick pur gepaart mit waschechtem britischen Humor. Was die Londoner Aufführung zum Glanzstück macht: die großartige Besetzung und ihr grandioses Timing. Das Publikum dankt es mit nahezu durchgängigem Gelächter.

Auch bei meinem zweiten Theaterbesuch fällt mir auf, dass dieser einem klassischen (Plüsch-)Kinoabend sehr viel ähnlicher ist, als ich es von Deutschland und Hamburg her gewohnt bin. Man kleidet sich leger, kaum jemand gibt Jacken oder Taschen an der Garderobe ab, Snacks und Getränke (sogar Mitgebrachtes!) sind im Zuschauerraum erlaubt und in der Pause wird dort Eis zum Verkauf angeboten. Auffällig ist außerdem der „Safety Curtain“, der zur Pause die Bühne vom Zuschauerraum trennt. Ich erfahre später, dass es sich um eine Feuerschutzmaßnahme handelt, stammen doch die meisten Theatergebäude im West End aus viktorianischer Zeit und entsprechen daher wohl nur unzureichend den modernen Brandschutzbestimmungen.

Nach dem tosenden Schlussapplaus mache ich mich mit reichlich strapazierten Lachmuskeln auf den Weg zurück nach Kensington.

London (Part III): Tag 3

Zeit für „London (Part III) – die Nachlese“! Es folgt die Rückschau auf Tag 3. Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Auch dieses Mal mache ich wieder den Fehler, ein Programm für zwei Wochen in sieben Tage pressen zu wollen. Die Stadt ist einfach zu groß dafür; selbst wenn man die Transfers geschickt vorplant, erfordern alle Wege von A über B nach C grundsätzlich mehr Zeit, als zuvor am Reißbrett ausbaldowert. Das merke ich am dritten Tag, als ich „nur mal eben“ durch den Hyde und Green Park laufen, bei Fortnum & Mason etwas besorgen und einen kurzen Blick in Burlington Arcade und Savile Row werfen will. Bis ich damit durch bin, wird es für mein Vorhaben, zwei bestimmte Orte in der Nähe von Euston Station und St. Pancras/King’s Cross zu besuchen, schon ziemlich knapp. Ab 14 Uhr möchte ich nämlich an der London Walks-Führung durch Kensington teilnehmen, um näheres über den Stadtteil zu erfahren, in dem meine Unterkunft liegt.

Aber zunächst zurück nach Mayfair. Um in der Burlington Arcade shoppen gehen zu können, müsste ich in eine ganz andere Gehaltsklasse springen. Aber schön anzusehen ist sie, keine Frage, und dann hängt da auch noch ausgesprochen hübsche Kunst!

Burlington Arcade
Burlington Arcade
"Birds" von Mathilde Nivet
„Birds“ von Mathilde Nivet

Als weniger hübsch erweist sich die Savile Row, bekannt als erste Adresse für maßgeschneiderte Herrenbekleidung. Zwar sind einige ansprechende Schaufenster zu bewundern, aber der einst wohl erheblich noblere Gesamteindruck wird unter anderem dadurch geschmälert, dass sich an der Ecke Burlington Gardens/Savile Row eine Abercrombie & Fitch-Filiale befindet. Was man riecht, bevor man es optisch wahrnimmt. Örks.

"Is it overcoat weather?"
„Is it overcoat weather?“

Schon etwas abgehetzt mache ich mich dann auf den Weg zur Euston Station. Dass ich in Speedy’s Café nichts essen oder trinken, sondern in meiner Eigenschaft als Sherlock-Aficionado nur schnell ein Foto von dem Gebäude schießen will, verschafft mir für die Platform 9 3/4 in King’s Cross ein wenig Muße.

Rather a tourist trap nowadays
Rather a tourist trap nowadays

Die braucht man auch, denn sowohl am Trolley als auch im Shop direkt daneben drängen sich die Menschen. Ein ausgesprochen fröhliches Treiben, ich kann mich nicht erinnern, je eine so gut gelaunte Warteschlange gesehen zu haben.

Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4
Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4

Am Trolley kann man sich, mit Zauberstäben und Schals in den gewünschten Häuserfarben ausgestattet, professionell ablichten lassen. Ein freundliches Helferlein sorgt dafür, dass die Schals im richtigen Moment wehen, um den Bildern Dynamik zu verleihen. Das entsprechende Kommando des Fotografen lautet „… and: scarf!“ und sowohl die jeweiligen Protagonisten als auch ausnahmslos alle Umstehenden haben großen Spaß dabei.

Platform 9 3/4
Platform 9 3/4

Der Shop ist in etwa so eingerichtet, wie man sich einen echten Zauberladen in der Winkelgasse vorstellt. Es werden dort neben allerhand lizenziertem Ramsch auch die hochwertigen Strickwaren des schottischen Betriebs angeboten, der die Verfilmungen ausgestattet hat. Mein Widerstand ist schnell dahin und ich erstehe einen original Ravenclaw-Schal – Gryffindor kann schließlich jeder.

Nach einer knappen Stunde sprinte ich zurück in die Tube und erreiche so noch rechtzeitig den Beginn der Führung am Bahnhof High Street Kensington. Da The Roof Gardens, normalerweise die erste Station und eines der Highlights des Walks, leider wegen einer Veranstaltung nicht öffentlich zugänglich sind, halten wir uns recht lange am Kensington Square und bei den Berühmtheiten auf, die die Gegend einst bewohnt haben. Besonders viel Strecke machen wir dadurch nicht, aber auch bei diesem Ausflug mit London Walks bekomme ich wieder Ecken zu sehen, in die ich so sonst nicht gekommen wäre und Geschichten erzählt, die in keinem der handelsüblichen Reiseführer stehen. Das lohnt sich einfach immer.

Kensington Square
Kensington Square

Nach einem kleinen Zwischenstopp im Quartier geht es am Abend ins Theatre Royal Haymarket und zur Royal Shakespeare Company. Das Theater existiert seit 1720 und zählt somit zu den ältesten noch im Betrieb befindlichen Spielstätten Londons. Die Innenausstattung ist dementsprechend grandios. Das Stück heißt „Queen Anne“ und ist, anders als Titel, Bühnenbild und Kostüme vermuten lassen, ein zeitgenössisches Werk. Zu meiner Freude habe ich keinerlei Verständnisprobleme und kann mir so von dem großartigen Ensemble die mir zuvor unbekannte Geschichte der Königin erzählen lassen, die England von 1702 bis zu ihrem Tod im Jahr 1714 regierte und auf deren Betreiben unter anderem die politische Vereinigung von England und Schottland zu Großbritannien („Act of Union“) zustande kam.

Das Stück dauert inklusive der Pause fast drei Stunden. Gegen Ende beschleichen mich leichte Konzentrationsprobleme. Das stramme Tagesprogramm fordert seinen Tribut und ich nehme mir fest vor, es von jetzt an langsamer angehen zu lassen.

Internationales Sommerfestival 2017 auf Kampnagel

Ich bin seit 2014 großer Fan des Internationalen Sommerfestivals. Seinerzeit lockte mich Chilly Gonzales mit „The Shadow“ auf das Kampnagel-Gelände. Von der Festivalatmosphäre angefixt, hangelte ich mich im Anschluss von einem Highlight zum nächsten, darunter „Nufonia must fall“ von Kid Koala und mein allererstes Orchesterkaraoke mit den Jungen Symphonikern.

Da ist die Sommerstimmung, der jährlich neu formierte Avant-Garden und das große Foyer, in dem Künstler, Mitarbeiter und Besucher bunt durcheinander wuseln – bisweilen derart bunt, dass man sich trotz Verabredung verpassen kann -; alle Sorten Kunst kommen vor, mit vielen Sorten Mensch von überallher und die Kollegen von cohen + dobernigg offerieren die dazu passende Literatur. Mit einem Wort: Es ist großartig.

#Juan2017: Mit Sicherheit unsicher

In diesem Jahr hatte das Sommerfestival ein Gesicht: Unter dem Hashtag #Juan2017 und mit dem Slogan „Mit Sicherheit unsicher“ dominierte das Konterfei des Kampnagel-Spitzenkandidaten Juan Dominguez das Gelände und gefühlt auch die halbe Stadt. Ein schönes Lehrstück darüber, wie man mittels massiver Plakatierung in kürzester Zeit gesichtsbekannt werden kann.

Notausgang freihalten

Spiegelspiele

Der Festival Avant-Garden, gestaltet vom Studio für Experimentelles Design der HFBK Hamburg, glich einem Spiegelkabinett: Hinter den großen Wänden war unter anderem auch die Gastronomie versteckt, was einige Orientierungsprobleme mit sich brachte.

Orientierungshilfe

Glotz nicht

Nicht im Bild: Die splitternackten Skulpturendarsteller, die wetterbedingt zu zeitweisen Ausflügen in die Innenräume gezwungen waren. Die Aktion irritierte und amüsierte gleichermaßen. Den Ausruf „Huch, die sind ja echt!“ hörte ich mehr als einmal.

Meine Programmauswahl ist zwar auch nach vier Jahren immer noch sehr musiklastig, ich meide konsequent Performances mit (un-)freiwilliger Zuschauerbeteiligung und suche in erster Linie nach Unterhaltung und nicht nach Auseinandersetzung oder gar Provokation. Aber ganz allmählich verschiebt sich der Schwerpunkt von Musik Richtung Tanz und Theater. Es hilft dabei enorm, dass sich viele Festivalveranstaltungen nicht an gängige Genregrenzen halten.

Michael Clarke Company: To a Simple, Rock ’n‘ Roll… Song

Wer wie ich ein Ticket für die Deutschlandpremiere am ersten Festivaltag ergattert hatte, konnte als Nebeneffekt ein Gläschen Sekt zu den Eröffnungsredebeiträgen im Avant-Garden genießen. Gut zu wissen! Ich merke es mir fürs nächste Jahr.

Im Vorfeld war viel von einer Hommage an David Bowie die Rede. Tatsächlich wurde nur der letzte von insgesamt drei Akten mit der Musik Bowies untermalt. Die einzelnen Akte wurden durch eine kurze und eine lange Pause unterbrochen, obwohl das Stück mit einer knappen Stunde Nettolaufzeit nicht sonderlich lang war. Das war der Konzentration auf das Gesamtkunstwerk nicht förderlich. Mir ist es nicht gelungen, dem roten Faden zu folgen, der dem Projekt zweifelsohne zugrunde liegt. Dazu kamen verwirrende Informationen im Programmheft, bestes Beispiel: Dafür, dass der zweite Akt aus drei Teilen bestehen sollte, war er meines Erachtens viel zu kurz. Ist jetzt schon die große Pause oder kommt da noch was? Ich war mit diesem Fragezeichen nicht allein und die Begeisterung, die die Weltpremiere im Londoner Barbican Centre ausgelöst hatte, konnte ich nicht teilen. Mir war es zu glatt, zu streng und trotz der (kalkulierten?) Wackler im ersten Teil zu perfekt – um das böse Wort „langweilig“ zu vermeiden.

Socalled & Friends: The 2nd Season featuring Fred Wesley

Von Langeweile konnte bei „The 2nd Season“ dagegen nicht die Rede sein. Dafür sorgte allein schon das Bühnenbild: Auf zweieinhalb Ebenen waren Puppenspieler, Tänzer und Musiker untergebracht, wobei dem Posaunisten Fred Wesley als Darsteller und Star des Abends ein herausgehobenes Plätzchen gewissermaßen zwischen den Welten reserviert war. Die Story hatte keine sonderliche Tiefe, aber Umsetzung und musikalisches Level verdienten das Prädikat Weltklasse.

Unter den Musikern war unter anderem das Kaiser Quartett anzutreffen, bekannt durch die Auftritte mit Chilly Gonzales (siehe oben) und dieser Tage auch anderweitig viel beschäftigt. Zumindest in einem Punkt mussten sich die vier Streicher auf Kampnagel nicht umgewöhnen, saß doch mit Josh Dolgin aka Socalled ebenfalls ein Kanadier am Flügel und gab den Ton an.

Philippe Quesne: Die Nacht der Maulwürfe

Es hilft beim Genuss eines Theaterabends ungemein, wenn man von vorneherein weiß, dass das Stück keine Handlung hat. „The Night of the Moles“ ist simpel, derb und grotesk, aber darüber ließ sich gut hinwegsehen: Bühnenbild, Requisite, Beleuchtung, Projektionen und vor allem Kostüme sowie die schauspielerischen und musikalischen Darbietungen (das Theremin!) boten ausreichend Faszination.

Neben den Auftritten in der K6 machten die Maulwürfe im Rahmen einer Parade außerdem noch Teile der Hamburger Innenstadt und die Elbphilharmonie-Plaza unsicher.

Wolfgang Voigt presents GAS live

Apropos Elbphilharmonie. Als ich am zweiten Festivalsonntag einen nahezu verwaisten Avant-Garden vorfand, hatte ich kurzzeitig die terminliche Überschneidung mit dem MS Dockville in Verdacht. Dann erst fiel mir wieder ein, dass die Elbphilharmonie in diesem Jahr erstmals Spielstätte des Sommerfestivals war. Normalerweise hätten zu diesem Zeitpunkt endorphinbeglückte Besucher des Orchesterkaraokes das Kampnagel-Foyer geflutet. Stattdessen herrschte dort gähnende Leere, denn das Karaoke fand in der Elphi statt und von der Schwierig- bzw. Unmöglichkeit, an die Tickets zu kommen, möchte ich erst gar nicht anfangen. Künftig werde ich also wohl nicht nur die Kampnagel-Konzerte des NDR Elbphilharmonie Orchesters schmerzlich vermissen müssen. Sehr schade.

Wolfgang Voigt präsentierte sein Musikprojekt GAS in der kleinen K2, die trotz der Konkurrenzveranstaltung am prominenteren Ort einigermaßen gut gefüllt war. Die Mischung aus Projektionen und Liveelektronik war grundsätzlich stimmig und stimmungsvoll, aber ein bisschen weniger Wumms in der Anlage hätte den Ohren gutgetan. Ich wankte anschließend weniger narkotisiert als gerädert aus dem Saal.

Eisa Jocson: Your Highness

Mein Beweggrund für den Besuch von „Your Highness“ war reine Neugier: Welche Form erhält ein zeitgenössisches Projekt, das sich mit Ballett- und Disneyprinzen bzw. -prinzessinnen beschäftigt? Die Antwort: Eine überraschend klassische, aber als Mittel zum Zweck. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer tanzten und ironisierten gleichzeitig Standards aus klassischem Ballett und Versatzstücke der Disney-Welt im fließenden Übergang und das in einer technisch nahezu perfekten Ensembleleistung. Beklemmend und faszinierend. Kostüme und Bühnenbild taten das Übrige dazu. Einziger Kritikpunkt: Etwas kürzer hätte es ausfallen können. Es gab einen natürlichen Schlusspunkt, der dann doch keiner war. Das mag als taktische Publikumsverwirrung gedacht gewesen sein, schmälerte aber die Wirkung des Stücks ein wenig.

Presse

Verpasst habe ich neben dem Orchesterkaraoke und dem Konzert von Rufus Wainwright (Ach! Elphi!) leider auch Mocky and Friends. Wenn ich geahnt hätte, dass Chilly Gonzales dort als Gastmusiker… Aber es wird wohl nicht sein letzter Auftritt an der Jarrestraße gewesen sein. Und der nächste Sommer kommt bestimmt.