Theater, Theater: „König Lear“ im Deutschen Schauspielhaus

Der Zufall wollte, dass ich zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen eine Inszenierung des „Lear“ sah: Zuerst eine Produktion des Chichester Festival Theatre mit Ian McKellen in der Titelrolle (gezeigt im Savoy im Rahmen der „English Theatre“-Reihe) und gestern die Version von Karin Beier im Deutschen Schauspielhaus.

Fangen wir mit der Nummer zwei an. In den etwas über drei Stunden der Dauer des Stücks fühlte ich mich die meiste Zeit gut unterhalten. Ich mochte die Bühne, die Kostüme, den Umgang mit und Einsatz von Geräuschen, Tönen und Musik (insbesondere das Klavierspiel) und das Ensemble, allen voran Jan-Peter Kampwirth, Edgar Selge und Lina Beckmann. Ich mochte, dass das Stück als solches erkennbar blieb. Ich mochte auch den offensiven und offensichtlichen Geschlechtertausch bei der Besetzung der Schwestern Goneril und Regan und der Rolle des Edmund. Und obgleich ich kein Fan von schreiender und tobender Nacktheit bin, so ist der Einsatz dieser Elemente doch absolut vertretbar, wenn in dem zu inszenierenden Stück zwei Wahnsinnige und ein Narr darzustellen sind. Was ich überhaupt nicht mochte: die Überfrachtung des Stücks mit aktuellen Bezügen. Besonders hervorstechend war dabei der arme königstreue Kent als blondperückiger, pöbelnder und obendrein auch noch sächselnder Wutbürger. Schon das Klischee wäre mir zu dumm gewesen, aber wie passt das zur Figur, zum Stück? Gar nicht. Es tut nicht Not, den „Lear“ in dieser Form aufstocken zu wollen. Die Story ist hochaktuell, um nicht zu sagen zeitlos. Es ist nicht das erste Mal, dass ich nach Genuss einer zeitgenössischen Theater- bzw. Operninszenierung zu dem Schluss komme: Weniger wäre sehr viel mehr gewesen.

Was mich direkt zur britischen Version bringt. „Aktualisiert“ waren hier lediglich Bühnenbild, Ausstattung und Kostüme. Alles darüber hinaus wurde dem Spiel überlassen, in dessen Mittelpunkt der geistige und körperliche Verfall des Lear und dessen Interpretation durch Ian McKellen stand. Auch in dieser Produktion waren Frauen in Männerrollen zu sehen, was allerdings nicht automatisch zu der Frage „was will der Regisseur uns damit sagen“ führt. Dass Besetzungen unabhängig von Geschlecht oder Hautfarbe vorgenommen werden, ist jenseits des Kanals offenbar völlige Normalität.

Ich will nicht behaupten, der originalgetreuere „Lear“ wäre auch automatisch der bessere gewesen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Stück sind kaum vergleichbar. Was ich aber am „English Theatre“ so sehr genieße: Ich kann völlig unvorbereitet in eine Aufführung gehen und mir eine Geschichte erzählen lassen. Zum Beispiel eben die des Königs, der eines Tages beschloss, noch vor seinem Tod die Königswürde und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Und bekomme dabei die Chance, neben der eigentlichen Handlung ohne Eingriff in den Text und überfrachtende Symbolik zu begreifen, wie universal und übertragbar diese Geschichte ist. Bei „König Lear“ von Karin Beier wäre das undenkbar gewesen. Hätte ich Story und Originalfiguren nicht schon gekannt und dadurch den roten Faden einigermaßen im Blick behalten, ich hätte vermutlich zur Pause aufgegeben.

Was ich gern hätte: Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Theaterwelten. Ob es das wohl irgendwo gibt?

Theater, Theater: „Unterwerfung“ im Deutschen Schauspielhaus

Anfang September stieß ich durch Zufall auf ein Bändchen, dessen Titel mir Unterstützung beim Erforschen meiner neu erwachten, noch sehr zart keimenden Theaterleidenschaft verhieß: „Wie es euch gefällt: der kleine Theaterversteher“ von Bernd C. Sucher. Untertitel („Alles was auf, vor und hinter der Bühne geschieht“), Klappentext, Einleitung und Kapitelaufteilung versprachen die kurze und knappe Vermittlung genau des Hintergrundwissens, an dem es mir mangelte. Was genau macht eigentlich ein Dramaturg? Woher kommt der Regisseurberuf und wie kommt es, dass er in Deutschland eine so besondere Rolle spielt? Wie erkenne ich, ob eine Produktion handwerklich stimmig ist, nach welchen objektiven Kriterien kann oder sollte ich eine Aufführung beurteilen? Ist das überhaupt (noch) möglich?

Als ich rund vier Wochen später endlich Muße fand, mich der Lektüre zu widmen, stellte sich nach wenigen Seiten herbe Enttäuschung ein. Was für eine Mogelpackung! Klare Definitionen und präzise Beschreibungen sind Mangelware. Stattdessen zitiert Sucher seitenweise um den heißen Brei herum, unter anderem Diderot, Lessing und Adorno, abwechselnd mit Schnipseln aus der Wikipedia. Dazwischen werden immer wieder Inszenierungsanalysen gestreut. Erstaunlich auch, wie viele Fachbegriffe bzw. generell Fremdwörter ich nachschlagen musste. Unter einem Einführungsband für Laien hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“, hallte es gleich mehrfach durch meinen Kopf. Für die Jüngeren unter uns: Das ist nicht original Brecht, aber beinahe.

Meinen Ärger herunterschluckend, kämpfte ich mich dennoch tapfer durch den Text. Zu den auf diese Weise härter als nötig errungenen Erkenntnissen gehört: Nicht das Regietheater im Allgemeinen ist, an dem ich mich in der Vergangenheit gestoßen habe. Es sind vielmehr die postdramatischen Auswüchse, bei denen Performance im Vordergrund steht und nicht ein Text oder die Schauspielkunst, und bei denen die Idee der Inszenierung in Reizüberflutung und Provokationslust untergeht – so denn überhaupt eine erkennbar, ja, vorhanden ist. Nichtsdestotrotz werde ich auch solche Veranstaltungen künftig mit anderen Augen betrachten können und mich fragen, ob ich bei der Beurteilung die richtigen, soll heißen: zur Gattung passenden Maßstäbe ansetze.

Nach Bernd C. Sucher habe ich in der Vorbereitung auf den gestrigen Theaterabend alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Ich hatte den dem Stück zugrundeliegenden Text, einen Roman von Michel Houellebecq, nicht gelesen und hätte das auch keinesfalls in der Originalsprache vermocht – meine Französischkenntnisse kann man bestenfalls als rudimentär passiv bezeichnen. Mir blieb keine Muße, mich mit der Inszenierung zu befassen, mit anderen Aufführungen, der Regisseurin, dem Bühnenbildner etc.; lediglich dem Namen Edgar Selge konnte ich ein Gesicht zuordnen. Ich beging sogar den Kardinalfehler, auf der Suche nach Orientierung noch vor dem Kartenkauf einzelne Kritiken zu überfliegen. Denen entnahm ich, dass eine überragende schauspielerische Leistung zu kargem, aber wirksamen Bühnenbild zu erwarten war.

Und wisst ihr was? Es stimmte nicht nur. Zumindest für den gestrigen Abend reichte es mir vollkommen.