Internationales Sommerfestival 2019 auf Kampnagel

Und im nächsten Jahr mache ich es wieder richtig. Mit Festivalkarte und so.

Soweit der gute Vorsatz, geäußert in der Nachbetrachtung zum letztjährigen Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel. Den muss ich wohl Anfang des Jahres, die BBC Proms fest im Blick, schon wieder komplett verdrängt gehabt haben. Als ich nämlich die dritte Festivalwoche des Jahres 2019 mit einer Urlaubsabwesenheit überplante. Es rächte sich. Ich sag nur: Chilly Gonzales.

Nun tritt der Mann ja durchaus öfter in Hamburg auf. Unter normalen Umständen also höchstens ein Fall von blödes Timing. Aber: Solo Piano I, II und III. In der Elbphilharmonie. Für mich ist das einer dieser Konzertwünsche, die man gar nicht erst zu denken wagt, geschweige denn zu äußern. Kommt wahrscheinlich auch nicht wieder. Und dann auch noch Kid Koala. Seit „Nufonia must fall“ (2014) bin ich Fan. „Satellite Turntable Orchestra“ findet nun leider ohne mich statt.

Ich fluchte. Sehr, sehr laut.

Aber hilft ja alles nichts, meine Bilanz kommt nun also schon nach zwei von drei Wochen und insgesamt sechs Veranstaltungen. Mit Festivalkarte. Eine Steigerung, immerhin.

Carsten „Erobique“ Meyer & Paul Pötsch & Lea Connert: Wir treiben die Liebe auf die Weide

Nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre entschied ich mich am ersten Festivaltag gegen die „große“ Eröffnung in der K6 („Marry me in Bassiani“) und für die Erforschung der DDR-Musik der 60er und 70er Jahre. Beim Betreten der K1 war ich zunächst verschnupft, denn die vorhandene Bestuhlung reichte bei weitem nicht für alle der knapp 300 Karteninhaber. Der Satz „da haben sie wohl ein paar mehr Tickets verkauft, als hier Platz ist“ schwebte durch den Raum. Offenbar hatte nicht nur ich mit mehr Inszenierung und weniger Konzert gerechnet. Innerlich murrend platzierte ich mich auf dem Boden vor der Bühne, wo sich bereits einige Sitzgrüppchen gebildet hatten. Gegen diese Stimmung anzuspielen erwies sich sowohl für die Band als auch den als Ansager und Einpeitscher beständig vor, auf, neben und hinter der Bühne irrlichternden Bernd Begemann als gar nicht so einfach. Aber spätestens beim Titelsong von Nina Hagen & Automobil hatten sie mich.

Ich kannte aus dem Programm nur „Der blaue Planet“ von Karat. Keine Kunst, zugegeben. Im Ohr behalten habe ich neben „Komm komm (Wir treiben die Liebe auf die Weide)“ insbesondere „He, wir fahr’n mit dem Zug“ von Veronika Fischer (fällt mir bestimmt wieder ein, wenn ich das nächste Mal dienstlich nach Rostock muss), „Sing nur“ von Gjon Delhusa (grandioser Auftritt von Sidney Frenz) und „Mont Klamott“ von Silly. Kurzum: Nicht unbedingt, was ich erwartet hatte, aber musikalisch unbestritten großartig.

Socalled & Friends: Space – The 3rd Season feat. Kiran Ahluwalia

Socalled, das Kaiser Quartett und die Puppen, das musste natürlich. Nach der Erfahrung mit „The 2nd Season“ im vorletzten Jahr lockten mich an „Space“ in erster Linie die Songs und das Puppenspiel als solches. Aber ich wollte auch wissen, wie die Geschichte von Bär, Tami und Tina weitergeht.

Allein, die Story war noch ein wenig dünner als im vorangegangenen Kapitel, der Mitmachteil fürs Publikum zündete nicht und was die von Kiran Ahluwalia verkörperte außerirdische Königin an „Singing in Harmony“ eigentlich so verwerflich findet, hat sich aus sprachlichen Gründen vermutlich auch nicht jedem der Anwesenden erschlossen. Da fehlte ein Twist. Und Raffinesse. Schade.

(La)Horde: Marry me in Bassiani

Während ich auf den Beginn von „Space – The 3rd Season“ wartete, entschied ich mich spontan, „Marry me in Bassiani“ doch noch eine Chance zu geben. Nicht zuletzt des Nachtkritik-Artikels wegen. Wir liegen nicht immer auf einer Wellenlänge, aber wenn Falk sagt: „Diesmal hat mir die Eröffnung wirklich gut gefallen!“ interpretiere ich das als klare Empfehlung.

Und tatsächlich, auch ich mochte es, wenn auch mit kleinen Abstrichen. Ich mochte den (Volks-)Tanz, der aber, über die Gesamtlänge gesehen, zu sehr ausgewalzt und als Selbstzweck zelebriert wurde. Ich mochte das Bühnenbild und die Kostüme, konnte die musikalische Entwicklung nachvollziehen und war fasziniert von einzelnen Szenen (der Brautstrauß!), aber Story und Botschaft des Stücks als Ganzes erschlossen sich mir nicht. In anderen Worten: Viel Tanz und (zu) wenig Theater. Mitreißend aber allemal.

Kris Verdonck: SOMETHING (out of nothing)

„Eine synästhetische Theaterüberwältigung in Zeiten des Klimawandels“, hatte ich im Programmheft über „SOMETHING (out of nothing)“ gelesen und mich folglich auf einiges gefasst gemacht. Leider war das einzige, was mich während der rund 85 Minuten Laufzeit überwältigte, eine bleierne Langeweile. Zwar gefielen mir die Kostüme, der (Cello-)Sound und die Skulpturen, man sah und hörte aber ansonsten viele Worte bei wenig Tanz, noch weniger Handlung und so gut wie gar keinem Schauspiel. Das Publikum in der K2 reagierte verhalten. Eine „4th Season“ von Socalled würde ich mir trotz der oben beschriebenen Defizite noch anschauen, Kris Verdonck habe ich dagegen fürs Erste von meiner Liste gestrichen. Eine waschechte Niete.

Agnieszka Polska/Metahaven/Robert Lippok & Lucas Gutierrez: The New Infinity 2019

Sommerfestival goes Planetarium – warum auch nicht! Mit „Immersion – The New Infinity“ der Berliner Festspiele wehte zur Abwechslung mal ein anderer Wind in der ansonsten edutainment- und altstarrocklastigen Programmstruktur unter der Kuppel. Gezeigt wurden drei Werke: „Elektra“ von Metahaven, „Non-Face“ von Robert Lippok & Lucas Gutierrez und „The Happiest Thought“ von Agnieszka Polska.

Davon hat mir „Non-Face“ am besten gefallen, der Grafik wegen. Mit „The Happiest Thought“ konnte ich dagegen wenig anfangen und obwohl ich planetarisch erfahren bin, hat mir die 360°-Wackelkamera bei „Elektra“ ziemlich zu schaffen gemacht.

Richard Reed Parry presents Quiet River of Dust

Im Anschluss lud Richard Reed Parry zu seinem Fulldome-Unterwassertrip „Quiet River of Dust“.

Das war mir persönlich zwar ein klein wenig zu psychedelisch. Aber herrlich erfrischend verglichen mit den regelmäßigen Konzert- und Musikshows des Hauses: Pink Floyd, Queen, DJ Jondal, Tabaluga…

Sommerfestival

Und sonst so? Über den Avant-Garten kann ich diesmal nichts schreiben – es gab nämlich keinen. Das Eis war lecker, die Playlist hilfreich, der Codo-Buchstand wie immer stöbernswert und ganz hinten in der Ecke, hinter den Klos nahe dem Eingang zur kmh, habe ich sogar ein Stückchen Festivalvorhang entdeckt. Leider hatte ich darüber hinaus viel zu wenig Gelegenheit, neben dem Hallenprogramm Festivalluft zu schnuppern. Das muss dringend wieder anders werden.

Nächstes Jahr. Ganz bestimmt.

Internationales Sommerfestival 2017 auf Kampnagel

Ich bin seit 2014 großer Fan des Internationalen Sommerfestivals. Seinerzeit lockte mich Chilly Gonzales mit „The Shadow“ auf das Kampnagel-Gelände. Von der Festivalatmosphäre angefixt, hangelte ich mich im Anschluss von einem Highlight zum nächsten, darunter „Nufonia must fall“ von Kid Koala und mein allererstes Orchesterkaraoke mit den Jungen Symphonikern.

Da ist die Sommerstimmung, der jährlich neu formierte Avant-Garden und das große Foyer, in dem Künstler, Mitarbeiter und Besucher bunt durcheinander wuseln – bisweilen derart bunt, dass man sich trotz Verabredung verpassen kann -; alle Sorten Kunst kommen vor, mit vielen Sorten Mensch von überallher und die Kollegen von cohen + dobernigg offerieren die dazu passende Literatur. Mit einem Wort: Es ist großartig.

#Juan2017: Mit Sicherheit unsicher

In diesem Jahr hatte das Sommerfestival ein Gesicht: Unter dem Hashtag #Juan2017 und mit dem Slogan „Mit Sicherheit unsicher“ dominierte das Konterfei des Kampnagel-Spitzenkandidaten Juan Dominguez das Gelände und gefühlt auch die halbe Stadt. Ein schönes Lehrstück darüber, wie man mittels massiver Plakatierung in kürzester Zeit gesichtsbekannt werden kann.

Notausgang freihalten

Spiegelspiele

Der Festival Avant-Garden, gestaltet vom Studio für Experimentelles Design der HFBK Hamburg, glich einem Spiegelkabinett: Hinter den großen Wänden war unter anderem auch die Gastronomie versteckt, was einige Orientierungsprobleme mit sich brachte.

Orientierungshilfe

Glotz nicht

Nicht im Bild: Die splitternackten Skulpturendarsteller, die wetterbedingt zu zeitweisen Ausflügen in die Innenräume gezwungen waren. Die Aktion irritierte und amüsierte gleichermaßen. Den Ausruf „Huch, die sind ja echt!“ hörte ich mehr als einmal.

Meine Programmauswahl ist zwar auch nach vier Jahren immer noch sehr musiklastig, ich meide konsequent Performances mit (un-)freiwilliger Zuschauerbeteiligung und suche in erster Linie nach Unterhaltung und nicht nach Auseinandersetzung oder gar Provokation. Aber ganz allmählich verschiebt sich der Schwerpunkt von Musik Richtung Tanz und Theater. Es hilft dabei enorm, dass sich viele Festivalveranstaltungen nicht an gängige Genregrenzen halten.

Michael Clarke Company: To a Simple, Rock ’n‘ Roll… Song

Wer wie ich ein Ticket für die Deutschlandpremiere am ersten Festivaltag ergattert hatte, konnte als Nebeneffekt ein Gläschen Sekt zu den Eröffnungsredebeiträgen im Avant-Garden genießen. Gut zu wissen! Ich merke es mir fürs nächste Jahr.

Im Vorfeld war viel von einer Hommage an David Bowie die Rede. Tatsächlich wurde nur der letzte von insgesamt drei Akten mit der Musik Bowies untermalt. Die einzelnen Akte wurden durch eine kurze und eine lange Pause unterbrochen, obwohl das Stück mit einer knappen Stunde Nettolaufzeit nicht sonderlich lang war. Das war der Konzentration auf das Gesamtkunstwerk nicht förderlich. Mir ist es nicht gelungen, dem roten Faden zu folgen, der dem Projekt zweifelsohne zugrunde liegt. Dazu kamen verwirrende Informationen im Programmheft, bestes Beispiel: Dafür, dass der zweite Akt aus drei Teilen bestehen sollte, war er meines Erachtens viel zu kurz. Ist jetzt schon die große Pause oder kommt da noch was? Ich war mit diesem Fragezeichen nicht allein und die Begeisterung, die die Weltpremiere im Londoner Barbican Centre ausgelöst hatte, konnte ich nicht teilen. Mir war es zu glatt, zu streng und trotz der (kalkulierten?) Wackler im ersten Teil zu perfekt – um das böse Wort „langweilig“ zu vermeiden.

Socalled & Friends: The 2nd Season featuring Fred Wesley

Von Langeweile konnte bei „The 2nd Season“ dagegen nicht die Rede sein. Dafür sorgte allein schon das Bühnenbild: Auf zweieinhalb Ebenen waren Puppenspieler, Tänzer und Musiker untergebracht, wobei dem Posaunisten Fred Wesley als Darsteller und Star des Abends ein herausgehobenes Plätzchen gewissermaßen zwischen den Welten reserviert war. Die Story hatte keine sonderliche Tiefe, aber Umsetzung und musikalisches Level verdienten das Prädikat Weltklasse.

Unter den Musikern war unter anderem das Kaiser Quartett anzutreffen, bekannt durch die Auftritte mit Chilly Gonzales (siehe oben) und dieser Tage auch anderweitig viel beschäftigt. Zumindest in einem Punkt mussten sich die vier Streicher auf Kampnagel nicht umgewöhnen, saß doch mit Josh Dolgin aka Socalled ebenfalls ein Kanadier am Flügel und gab den Ton an.

Philippe Quesne: Die Nacht der Maulwürfe

Es hilft beim Genuss eines Theaterabends ungemein, wenn man von vorneherein weiß, dass das Stück keine Handlung hat. „The Night of the Moles“ ist simpel, derb und grotesk, aber darüber ließ sich gut hinwegsehen: Bühnenbild, Requisite, Beleuchtung, Projektionen und vor allem Kostüme sowie die schauspielerischen und musikalischen Darbietungen (das Theremin!) boten ausreichend Faszination.

Neben den Auftritten in der K6 machten die Maulwürfe im Rahmen einer Parade außerdem noch Teile der Hamburger Innenstadt und die Elbphilharmonie-Plaza unsicher.

Wolfgang Voigt presents GAS live

Apropos Elbphilharmonie. Als ich am zweiten Festivalsonntag einen nahezu verwaisten Avant-Garden vorfand, hatte ich kurzzeitig die terminliche Überschneidung mit dem MS Dockville in Verdacht. Dann erst fiel mir wieder ein, dass die Elbphilharmonie in diesem Jahr erstmals Spielstätte des Sommerfestivals war. Normalerweise hätten zu diesem Zeitpunkt endorphinbeglückte Besucher des Orchesterkaraokes das Kampnagel-Foyer geflutet. Stattdessen herrschte dort gähnende Leere, denn das Karaoke fand in der Elphi statt und von der Schwierig- bzw. Unmöglichkeit, an die Tickets zu kommen, möchte ich erst gar nicht anfangen. Künftig werde ich also wohl nicht nur die Kampnagel-Konzerte des NDR Elbphilharmonie Orchesters schmerzlich vermissen müssen. Sehr schade.

Wolfgang Voigt präsentierte sein Musikprojekt GAS in der kleinen K2, die trotz der Konkurrenzveranstaltung am prominenteren Ort einigermaßen gut gefüllt war. Die Mischung aus Projektionen und Liveelektronik war grundsätzlich stimmig und stimmungsvoll, aber ein bisschen weniger Wumms in der Anlage hätte den Ohren gutgetan. Ich wankte anschließend weniger narkotisiert als gerädert aus dem Saal.

Eisa Jocson: Your Highness

Mein Beweggrund für den Besuch von „Your Highness“ war reine Neugier: Welche Form erhält ein zeitgenössisches Projekt, das sich mit Ballett- und Disneyprinzen bzw. -prinzessinnen beschäftigt? Die Antwort: Eine überraschend klassische, aber als Mittel zum Zweck. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer tanzten und ironisierten gleichzeitig Standards aus klassischem Ballett und Versatzstücke der Disney-Welt im fließenden Übergang und das in einer technisch nahezu perfekten Ensembleleistung. Beklemmend und faszinierend. Kostüme und Bühnenbild taten das Übrige dazu. Einziger Kritikpunkt: Etwas kürzer hätte es ausfallen können. Es gab einen natürlichen Schlusspunkt, der dann doch keiner war. Das mag als taktische Publikumsverwirrung gedacht gewesen sein, schmälerte aber die Wirkung des Stücks ein wenig.

Presse

Verpasst habe ich neben dem Orchesterkaraoke und dem Konzert von Rufus Wainwright (Ach! Elphi!) leider auch Mocky and Friends. Wenn ich geahnt hätte, dass Chilly Gonzales dort als Gastmusiker… Aber es wird wohl nicht sein letzter Auftritt an der Jarrestraße gewesen sein. Und der nächste Sommer kommt bestimmt.

Saša Stanišićs „Fallensteller“ bei cohen+dobernigg und eine Lecture Party im Nachtasyl

Ich hatte in der vergangenen Woche das Vergnügen, zwei höchst unterschiedlichen Lesungen genießen zu dürfen.

Nummer eins war die Buchpremiere von Saša Stanišićs „Fallensteller“ bei cohen+dobernigg. Das ist anders als „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ und „Vor dem Fest“ kein Roman, sondern ein Band mit Erzählungen. Ich bin kein ausgewiesener Fan von Kurzgeschichten und hatte daher nicht zwingend vor, das Buch zu kaufen. Aber nach dem Vortrag des Autors führte kein Weg mehr daran vorbei. Da liest nämlich eine im positiven Sinne hyperaktive und außerordentlich sympathische Rampensau, die große, sehr große Freude an der Interaktion hat. Das bringt Laune und macht Lust auf das Buch. (Die im „Literarischen Quartett“ mochten es übrigens auch. Alle.)

Nummer zwei war eine „Lecture Party“ zum Thema Popkultur mit Thomas Meinecke und Matthias Günther im Nachtasyl. Die (YouTube-)Reise führte über Holz und Stock, John Travolta, Blondie, den Sex Pistols, Hildegard Knef, David Bowie (Falco!), Billie Holiday, Johnny Cash und Udo Lindenberg bis hin zum wunderschönen Genre der Literal Videos, siehe unten. Nach gut 1 3/4 Stunden war leider Schluss, einer nachfolgenden Veranstaltung wegen. Schade – das hätte gut und gerne noch ein Stündchen länger dauern können!